Die Spieler des FC St. Pauli reagieren enttäuscht auf die 0:4-Heimklatsche gegen Mönchengladbach

Braun-weißer Frust nach der 0:4-Klatsche gegen Mönchengladbach am Millerntor Foto: WITTERS

„Das Rezept für ein Desaster“: Warum es bei St. Pauli in der Mannschaft rumort

kommentar icon
arrow down

Es ist etwas faul in der Mannschaft des FC St. Pauli. Da läuft was bedenklich schief. Nie wurde das deutlicher in den vergangenen Wochen als bei der 0:4-Heimklatsche gegen das zuvor sieben Monate sieglose Tabellenschlusslicht Mönchengladbach und noch mehr danach: aus den Worten der Beteiligten. Die Teamchemie ist gestört, die Geschlossenheit größte Stärke bei der erfolgreichen Mission Klassenerhalt im ersten Bundesligajahr und Basis für den Erfolg der vergangenen Jahre – abhandengekommen. Die Spieler ziehen nicht an einem Strang, nicht alle folgen der vorgegebenen Linie, es gilt nicht mehr: einer für alle, alle für einen. Die Mannschaft muss schleunigst wieder eine Einheit werden. Der Trainer spricht von einer „prekären Situation“, nimmt das Team in die Pflicht und stellt auch seine Maßnahmen in Frage.

Die Ergebnisse sind das eine: sechs Niederlagen in der Bundesliga in Serie, dabei desaströse 1:12 Tore, seit vier Liga-Spielen ohne eigenen Treffer und seit Hauke Wahls Tor beim 1:2 gegen Leverkusen am 27. September satte 420 Minuten torlos (der Sieg im DFB-Pokal gegen Hoffenheim am vergangenen Dienstagabend ausgeklammert).

St. Pauli hat „zwei desolate Heimspiele“ abgeliefert

Die Art und Weise ist das andere: Die Kiezkicker kassierten gegen Gladbach die höchste Niederlage seit dem Aufstieg, lieferten vor eigenem Publikum die schlechteste Leistung seit Monaten ab, fielen mit zunehmender Spieldauer auseinander, spielten mehr nebeneinander als miteinander, geschweige denn füreinander. Befreiung und Aufschwung nach dem dramatischen Sieg im Pokal-Thriller? Nur ein frommer Wunsch.

„Wir haben in den letzten Wochen viele Nackenschläge bekommen“, sagte Hauke Wahl zur Gesamtsituation, insbesondere zu den jüngsten Liga-Pleiten gegen Hoffenheim (0:3) und Gladbach (0:4). „Wir hatten zwei desolate Heimspiele in der Liga. Das stärkt natürlich nicht das Selbstvertrauen, gerade wenn man in so einem wichtigen Spiel so schwach ist, dann macht es natürlich auch was mit der Einstellung und es fällt einem immer schwerer.“

Tiefpunkt statt Turnaround nach Pokal-Jubel

Tiefpunkt statt Turnaround. Nichts von dem, was sich die Mannschaft vorgenommen, was Trainer Alexander Blessin erwartet und der braun-weiße Anhang erhofft hatte, war in diesem wegweisenden Duell zu sehen. Von allem zu wenig. Viel zu wenig. Oder wie Wahl es auf deprimierende Art und Weise formulierte: „Wir waren einfach nicht auf dem Feld.“ Die Strapazen der 120 Pokalminuten plus Elfmeter-Krimi wollte niemand als Erklärung oder gar Entschuldigung gelten lassen. St. Pauli schlägt sich derzeit vor allem selbst.

Redebedarf. Mal wieder. Und mehr denn je. Nur, wer wie und mit wem redet, muss sich nach Ansicht des Chefcoaches, der weiterhin die Rückendeckung der Vereinsführung hat, ändern.

Alexander Blessin fordert „Antworten von der Mannschaft“

„Monologe habe ich schon öfter geführt, deswegen ist jetzt mal die Mannschaft gefragt“, sagte Blessin in kleinerer Runde im Anschluss an die Pressekonferenz nach dem Spiel, nicht polemisierend, nicht polternd, sondern sehr ruhig, wenngleich seine Frustration als konstanter Unterton zu vernehmen war. Er nehme „die Mannschaft in die Pflicht. Es geht nicht um mich in dem Moment. Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir es nur zusammen schaffen als Mannschaft und da ist uns ein bisschen was abhandengekommen. Da erwarte ich Antworten von der Mannschaft“.

Knallhart und schonungslos brachte Eric Smith, in Abwesenheit von Jackson Irvine der Kapitän dieser Mannschaft, die Probleme und Defizite des Teams auf den Punkt. Seine Ausführungen in der Interview-Zone des Millerntor-Stadions, bei denen er nicht ein einziges Mal aufschaute, sondern wahlweise den Boden oder die ihm entgegengestreckten Aufnahmegeräte fixierte, waren eine Abrechnung mit der kollektiven Leistung.

Knallharte Kritik von Kapitän Eric Smith

„Das ist in keinem Aspekt des Fußballs gut genug: die Intensität, das Spiel mit dem Ball, das Spiel gegen den Ball, wie hoch oder tief wir standen“, listete der Abwehrchef auf. „Alles war unzureichend, das müssen wir uns anschauen. Wir können uns nicht einfach ergeben und sterben. Aber wenn wir so spielen wie heute, haben wir in dieser Liga nichts zu suchen.“

Das Schlimme: Es sind wiederkehrende Probleme. Auf die Frage der MOPO, ob er die Einschätzung teile, dass seit Wochen und nach jedem Spieltag über die immer gleichen Unzulänglichkeiten gesprochen werde, antwortete Smith kurz und knapp: „Ja.“ Bezeichnend. Auch für den Ärger, dass sich nicht längst etwas verändert und nachhaltig verbessert.

Von der zweitbesten Abwehr zu drittmeisten Gegentoren

Die größten Mängel gibt es im Spiel gegen den Ball. In der vergangenen Saison stellte St. Pauli als Aufsteiger die zweitbeste Defensive der Liga, verteidigte mit einer beeindruckenden Mischung aus Disziplin, Intensität und Leidenschaft das eigene Tor. In dieser Spielzeit haben die „Boys in Brown“ die drittmeisten Treffer (18) kassiert. Smith: „Es gibt Dinge in unserem Spiel, die nicht gut genug sind. Eines davon ist, wie wir unser Tor verteidigen und wie einfach es ist, durch unsere Linien zu spielen, wie einfach es ist, die erste Pressinglinie unserer Stürmer zu überspielen, wie einfach es ist, im Mittelfeld Lücken zu finden, und wie einfach es ist, hinter unsere letzte Linie zu kommen. Man kann das das Rezept für ein Desaster nennen.“

Fakt ist: St. Pauli ist die enorme Qualität beim Verteidigen des eigenen Tores und damit die Kompaktheit verloren gegangen, weil es gegenüber der Vorsaison Mängel bei der taktischen Disziplin, Intensität, Aggressivität, Konsequenz, Konzentration gibt – und schlimmer: bei der Bereitschaft. Beim unbedingten Willen. Nicht alle ziehen richtig mit und machen das, was gefordert ist. Manche kämpfen einsam statt gemeinsam. Das eröffnet dem Gegner Räume und Möglichkeiten. Die Gladbacher wurden förmlich eingeladen zu Offensivaktionen, auf Wunsch mit Begleitservice, der sich jedoch oft diskret im Hintergrund hielt.

Mängel bei Disziplin, Zweikampfverhalten, Emotionalität

Selten sah man derart oft und viele Kiezkicker ihren Gegenspielern vor Gegentoren hinterhertraben wie am vergangenen Samstag. Es ist nicht einmal mehr mit Schmerzen verbunden, gegen St. Pauli ein Tor zu schießen, weil es zu selten scheppert im Zweikampf. Es fehlt zu oft die Unbedingtheit in den direkten Duellen, auch an Härte und am Willen, den Gegenspieler bei Schuss, Pass oder Kopfball wenigstens maximal zu bedrängen, zu stören, um ein Tor zu verhindern, einen Fehlpass zu provozieren und damit die Chance auf zweite Bälle zu erhöhen.

Auffällig ist auch, dass die Emotionalität, das gegenseitige Anfeuern und Abfeiern von gelungenen Defensivaktionen, immer seltener zu sehen ist. Nicht untypisch in einer Niederlagenserie. Aber andererseits ein Hilfsmittel, um sich mit kleinen Schritten wortwörtlich aus der Krise zu kämpfen, sich selbst, aber auch das Publikum anzuzünden. Dass seit Saisonbeginn die Abwehr immer wieder umgebaut werden musste, war sicherlich nicht förderlich für die Stabilität, ist aber nicht der Hauptgrund dafür, dass die Kompaktheit fehlt.

Nicht alle Spieler halten sich an Absprachen und Vorgaben

Ärger klingt durch, wenn Smith moniert, dass Vorgaben nicht umgesetzt und immer wieder die Basics (Laufbereitschaft, Zweikampfführung) vernachlässigt werden. Gleichzeitig scheint es immer noch Spieler im Team zu geben, die der Meinung sind, dass der Fokus eher auf spielerischen Akzenten liegen sollte, wenn Smith sagt: „Wir müssen verstehen, wo wir stehen. Wir sind keine Top drei in dieser Liga.“ Im gleichen Atemzug fordert er: „Wir müssen uns an unsere Prinzipien halten. Wenn wir anfangen, Dinge zu tun, die wir nicht besprochen haben, werden wir es extrem schwer haben in dieser Liga. Ich will nicht zu viel oder zu wenig sagen, aber es ist einfach ein hartes und schreckliches Gefühl.“

Klassenkampf hat mit kämpfen zu tun. Nicht alle Spieler scheinen verstanden zu haben, dass bei St. Pauli zuerst Fußball gekämpft und im zweiten Schritt gespielt wird, nicht umgekehrt, auch wenn der offensive Ansatz und der Weg nach vorne mit Ball mehr Spaß macht, als der nach hinten ohne.

Haben die Neuen St. Paulis Weg noch nicht verstanden?

Sind es vor allem die Neuzugänge, die den defensiv-basierten Ansatz und die Identität der Mannschaft noch nicht verinnerlicht haben? Hat der sehr gute Saisonstart mit sieben Punkten aus den ersten drei Spielen und einem Platz weit oben in der Tabellen dafür gesorgt, dass der eine oder andere Kiezkicker (und in der Summe dann zu viele) insgeheim eine andere Herangehensweise an ein Spiel wählte? St. Pauli als Opfer des eigenen frühen Erfolges, der die Sinne und den realistischen Blick auf die eigenen Fähigkeiten und Perspektiven getrübt haben mag? Das wäre neu. Realismus war eine große Stärke und Erfolgsrezept der Mannschaft in den vergangenen beiden Spielzeiten.

Fragen wie diese habe er sich auch schon gestellt, bekannte Blessin, hielt aber dagegen: „Die Hälfte der Mannschaft ist vom letzten Jahr, die wissen das eigentlich einzuordnen. Mit den Neuen haben wir schon einige Gespräche genau darüber geführt, was unser Auftrag ist, was wir erreichen wollen und was unsere Zielsetzung ist.“ Vollumfänglich scheint das noch nicht angekommen zu sein und gefruchtet zu haben, denn der Trainer fügt an: „Da müssen wir wieder einen Konsens finden. Von dem haben wir uns heute weit entfernt.“

„Zusammengehörigkeitsgefühl schnell wiederfinden“

Dass es diesen Konsens nach nunmehr sechs Niederlagen in Serie immer noch nicht richtig und nachhaltig gibt und es an uneingeschränkter Akzeptanz zu mangeln scheint, ist durchaus irritierend und besorgniserregend.

Der Grat zwischen Kritik und Schuldzuweisung, Selbstkritik und Selbstzerfleischung ist schmal, weshalb Klartext-Aussprachen innerhalb einer Mannschaft eine sensible Angelegenheit sind. Sie können zusammenschweißen, aber auch spalten. Eine Polarisierung zwischen arrivierten Kiezkickern und Neuzugängen, zwischen erfahrenen und jungen Profis, soll tunlichst vermieden werden. „In so einer Phase zeigt oft jeder auf den anderen, aber wenn wir das machen sollten, dann wird es schwieriger, da rauszukommen“, weiß und warnt Blessin. „Es geht darum, dass wir dieses Zusammengehörigkeitsgefühl möglichst schnell wiederfinden“ und wieder eine braun-weiße „Gemeinschaft“ auf dem Platz zu haben, die sich einig ist, bei dem, was sie tut und dementsprechend spielt.

Blessin sucht Fehler auch bei sich selbst

Der Trainer nimmt sich bei seiner kritischen Betrachtung des Ist-Zustands, den er als „prekäre Situation“ bezeichnet, nicht aus. „Ob ich die richtigen Entscheidungen getroffen habe, was die Aufstellung und Einstellung der Mannschaft angeht, da werde ich mich sicherlich mit meinem Trainerteam besprechen. Da suche ich sicherlich auch Fehler bei mir“, versicherte Blessin.

Die internen Probleme sind erkannt und benannt. Schlimmer als Enttäuschung, Frust und Ärger wäre Ratlosigkeit, weil alle am Anschlag spielen, alle Ressourcen ausgeschöpft sind und es trotzdem nicht läuft. Auch Smith sieht trotz roter Alarmstufe noch nicht schwarz, denn das mehr in der Mannschaft steckt als sie zuletzt gezeigt hat, dürfte niemand bezweifeln, der sie in der Vorbereitung, den ersten drei Saisonspielen oder auch gegen Leverkusen spielen gesehen hat.

Das könnte Sie auch interessieren: Zu leise, zu lahm: Das Millerntor kann mehr!

„Wir haben nicht mal die Hälfte der Saison gespielt. Wir haben noch viele Spiele vor uns. Wie ich gesagt habe: Wenn wir akzeptieren, so geschlagen zu werden, haben wir Probleme. Aber wenn wir es stattdessen umdrehen und Energie daraus ziehen, dann haben wir eine Chance“, betont der Defensiv-Stratege. „Es ist jetzt sehr klar für alle: Wenn wir uns nicht daran halten, was wir besprochen haben, sind wir nicht gut genug. Das ist die ganz klare Botschaft.“

Share on facebook
Share on twitter
Share on whatsapp
test