Vision Fahrradstadt Hamburg: Geht’s Bäumen oder Parkplätzen an den Kragen, Herr Tjarks?
Vision Zero – Die autofreie Stadt ist eines der Themen auf der diesjährigen digitalen Veloweek in Hamburg. Wegen der Coronakrise ist das Fahrradfestival ins Internet gewandert. Die MOPO sprach mit Verkehrssenator Anjes Tjarks (Grüne) über eine mögliche Fahrradstadt Hamburg – und was dafür Platz machen müsste.
MOPO: Wie sieht Ihre Vision einer Fahrradstadt aus?
Für mich funktioniert Radverkehr im Kern so: Die Menschen gehen aus dem Haus und das erste Verkehrsmittel, auf das sie treffen, muss das Fahrrad und nicht das Auto sein. Im Moment stehen die Fahrräder vieler Menschen irgendwo unten im dunklen Keller, die Treppe ist steil und man hat Probleme, es hochzutragen – mit einem Kindersitz noch viel mehr. Da muss man aufpassen, dass man nicht noch die Treppe herunterfällt.
MOPO: Und draußen wird das Fahrrad dann geklaut…
Vor der Tür ist das Fahrrad weniger sicher, und es gibt in vielen Fällen keine Abstellmöglichkeiten oder es versperrt in der verdichtet gebauten Stadt den Gehweg. Das ist alles Mist. Wir brauchen ein Fahrradkonzept, bei dem die Leute aus der Haustür gehen, dort auf ihr Fahrrad treffen und weil das da so schön steht und Radfahren einfach ist, fahren sie los. Sie sollen sich bei Radfahren entspannt und sicher fühlen und schließlich müssen sie natürlich auch sicher sein, dass das Fahrrad dort, wo sie hinfahren auch wieder sicher angeschlossen werden kann.
MOPO: Auf der Veloweek ist ein großes Thema die autofreie Stadt – wann kommt das für Hamburg?
Bezogen auf ganz Hamburg ist das momentan kein Thema. Im Innenstadtbereich ist es so, dass wir unsere Ideen für eine autoarme, lebendige Innenstadt vorgelegt haben. Ich glaube, dass im Innenstadtbereich auch weiterhin Autos fahren, aber deutlich reduziert. Für den Jungfernstieg haben wir im Herbst 2021 bereits eine Velorouten-Maßnahme geplant, da schauen wir dann, ob wir daran anknüpfen können.
MOPO: Städte wie Hamburg sind in der Nachkriegszeit autofreundlich gebaut worden. Wird bei den Neubau-Quartieren wie Oberbillwerder von Anfang an mehr auf Fahrräder geachtet?
Absolut. In Oberbillwerder laufen die Veloroute und der Radschnellweg von Bergedorf nach Hamburg durch. Bereits bei der Planung solcher Quartiere wird auf Autoarmut geachtet. Die Anzahl der Stellplätze pro Wohneinheit liegt bei 0,25. Der normale Wert liegt bei 0,8. Hier geht es genau darum, möglichst wenig Autoverkehr zu erzeugen.
MOPO: Gibt es denn in den neuen Quartieren zumindest Gebiete, die komplett autofrei werden?
Zum Beispiel das Holstenquartier, das neben der Mitte Altona gebaut werden soll: Dort wird der innere Kern komplett autofrei sein. Die Harkortstraße erschließt das Quartier von Norden her. Von Süden können die Häuser über die Haubachstraße angefahren werden. In der Mitte ist der Park – ohne Autos.
MOPO: Im Jahr 2019 gab es über 3000 Unfälle mit Radfahrern. Wie hoch soll die Zahl in fünf Jahren sein?
Wenn wir die langjährige Entwicklung angucken, sind wir bereits dabei, die Zahl der Unfalltoten in Hamburg drastisch zu reduzieren. Vor 30 Jahren hatten wir noch 100 Tote pro Jahr, mittlerweile gibt es knapp unter 30. Das sind natürlich immer noch zu viele, wir wollen da weiter runter.
MOPO: Was ist denn ihr Ziel?
Wir wollen, dass die Zahl der schweren Unfälle weiter sinkt. Auch die Zahl der Unfalltoten wollen wir im Geiste der Vision Zero weiter reduzieren. Gleichzeitig wollen wir, dass der Radverkehr deutlich steigt. Deshalb werden wir einen Indikator einführen, der die Zahl der geradelten Kilometer in ein Verhältnis mit den schweren Unfällen setzen wird. Wir wollen eine Politik machen, dass dieses Verhältnis sich stetig und deutlich verbessert. Verkehrssicherheit ist das oberste Gebot der Verkehrspolitik.
MOPO: Wie wollen Sie das konkret erreichen?
Die Sichtbeziehungen sollen verbessert werden, damit sich die verschiedenen Verkehrsarten gegenseitig im Blick behalten. Im Radentscheid haben wir vereinbart, öfter eine bauliche Trennung zwischen Radverkehr und Autoverkehr, aber auch zwischen Fußverkehr und Radverkehr vorzunehmen. Auch dort gibt es Unfälle.
Die wirklich schweren Radunfälle passieren, wenn Autofahrer abbiegen. Eine Lösung wären Vorrangschaltungen an Ampeln. Dann ist die Kreuzung schon geräumt, weil die Radfahrer zwei Sekunden vorher Zeit hatten, rüberzufahren. Das verbessert die Sicherheit definitiv.
MOPO: Noch immer gibt es keine EU-weite Regelung für LKW-Abbiegeassistenten. Die wird erst in ein paar Jahren erwartet. Ärgert Sie diese Behäbigkeit? Immerhin geht es hier um Menschenleben.
Ganz klar: Ja. Deshalb machen wir solange das, was wir können. Wir rüsten alle städtischen LKWs und die unserer städtischen Unternehmen um. Wir haben den großen Vorteil, dass wir in Hamburg auch Firmen haben, die diese Technologie anbieten und verkaufen können. In Deutschland sterben jedes Jahr 36 Menschen durch diese Abbiegeunfälle. Wenn das im Luftverkehr passieren würde, würde die gesamte Flotte lahmgelegt werden, bis die Ursache gefunden worden ist. Deswegen ärgert mich die mangelnde Konsequenz.
MOPO: Für den Ausbau der Radwege braucht man Platz. Was könnte am ehesten weichen: Bäume oder Parkplätze?
Die Identität von Hamburg wird entscheidend von Stadtbäumen geprägt. Deswegen ist völlig klar, dass wir diese möglichst erhalten wollen. Ich glaube, dass an vielen Straßen durchaus Platz ist. Aber es wird auch Konflikte geben, die man mit der konkreten Straßenplanung auflösen muss. Am Ende ist es wichtig, dass wir Radwege bauen, auf denen sich die Leute wohlfühlen. Dafür wollen wir aber nicht reihenweise Bäume abholzen.
MOPO: Also geht es eher den Parkplätzen an den Kragen?
In der Tendenz ja. Aber auch das ist keine Vendetta. Wir suchen nach Lösungen. Und wir wollen mehr Parkmöglichkeiten für Fahrräder schaffen, davon gibt es auch häufig zu wenige.
MOPO: In der Vergangenheit hat das oft für Proteste gesorgt. Wie nehmen Sie die Menschen mit auf Ihren Weg?
Die Frage ist: Gibt es noch große Proteste, nachdem der Umbau fertig ist? Am Klosterstern gab es harte Proteste und jetzt sind eigentlich alle ganz zufrieden. Die Qualität für den Radverkehr hat sich deutlich verbessert und auch die Aufenthaltsqualität ist gestiegen. Man muss die Sorgen und Nöte der Leute aufgreifen und für Lösungen gewinnen. Und ich glaube, ich bin eine Person, die Menschen dafür gewinnen und für die Mobilitätswende begeistern kann.
MOPO: Werden Autofahrer dazu genötigt, ihr Auto zu verkaufen?
Es ist die freie Entscheidung jedes Menschen, wie er oder sie sich fortbewegt. Der öffentliche Raum hat in einer wachsenden und sich verdichtenden Stadt wie Hamburg aber einen Wert für den einzelnen Bewohner. Deshalb müssen wir diesen öffentlichen Raum besser pflegen, ihn auch bepreisen, zum Beispiel durch das Anwohnerparken.
MOPO: Bisher wurden nicht einmal die 50 Kilometer Ausbau der Radwege erreicht, wie schafft man jetzt bis zu 80 Kilometer pro Jahr?
Olaf Scholz hat die 6000 Wohnungen auch nicht im ersten sondern im letzten Jahr seiner Legislaturperiode gebaut.
MOPO: Aber wie wollen Sie das schaffen?
Das Thema wird eine höhere Priorität bekommen. In diesem Jahr wird das Ziel nicht zu erreichen sein, weil Planungen Vorlauf brauchen. Das Ganze ist ein langer Prozess, den man erst einmal aufbauen und zum Beispiel auch die Bezirke dafür gewinnen muss. Und es müssen Planungen auch entschieden werden. Es gibt dafür jetzt die Senatskommission für Klimaschutz und Mobilitätswende, die unter anderem dafür sorgen soll, dass es bei strittigen Projekten voran geht.
MOPO: Wenn der Radverkehrsanteil irgendwann bei 30 Prozent liegt. Brauchen wir in Hamburg dann eine Helmpflicht?
Ich denke, dass der Radverkehr sicherer wird, wenn mehr Menschen Rad fahren. Es gibt zwar auch Unfälle zwischen Radfahrern, aber das sind normalerweise nicht die schweren Unfälle, wegen denen man einen Helm trägt. Wenn wir bei 30 Prozent Fahrradfahrern wären, wird die allgemeine Aufmerksamkeit für den Radverkehr deutlich steigen. Je mehr Radfahrer es in unserer Stadt gibt, desto sicherer wird der Radverkehr in Hamburg.
Video: Das halten die Hamburger von den Plänen des Grünen Verkehrssenators
Solange Großveranstaltungen nicht möglich sind, geht die Velo andere Wege, um die Fahrradtrends erlebbar zu machen. Die VELOHamburg Week vom 15.-21. Juni 2020 wird eine vielseitige, virtuelle Informations- und Dialogplattform.