Wunderschön: der Dreimast-Gaffelschoner „Großherzogin Elisabeth“, alle Segel gesetzt
  • Wunderschön: der Dreimast-Gaffelschoner „Großherzogin Elisabeth“
  • Foto: Imago

Hamburger Verleger: Von blinden Passagieren und einem Wunder im Watt

Ach, 2023. Ich habe nachgesehen: Jede letzte Kolumne der zurückliegenden Jahre – dies hier ist Folge 238 – endet mit einer Bemerkung in der Art, dass es nicht mehr schlimmer kommen könne. Tja.

Auch das zurückliegende Jahr zeigte, dass die Welt nach Corona nicht aus dem Zustand der Dauerkrise herauskommt. Die Terroranschläge der Hamas auf Israels Kinder, Teenager, Alte. Der anschließende Krieg in Gaza. Angriffe auf Handelsschiffe im Roten Meer. Russlands Verbrechen an der Zivilbevölkerung der Ukraine. Der Aufstand von Putins ehemaligem Koch. Sterben im Mittelmeer. Naturkatastrophen. Klimakrisen. Der ewige Streit einer Bundesregierung, die an das Ensemble einer Daily Soap erinnert, die keiner mehr einschalten mag. Die sogenannte AfD, die man nur auslachen möchte, mehr auch nicht. 

An Hamburgs Elbbrücken steht nun eine hundert Meter hohe Ruine

England krönte einen König. Elon Musk bewies, dass man gleichzeitig der reichste Mensch der Welt und ein armer Knopf sein kann. An Hamburgs Elbbrücken steht nun eine hundert Meter hohe Ruine, die womöglich ein Wahrzeichen wird für Pläne, die auf Kaiserschmarrn gebaut sind.

Ob und wann der Elbtower weitergebaut wird, weiß derzeit niemand. dpa | Christian Charisius
Die Elbtower-Baustelle im Nebel
Ob und wann der Elbtower weitergebaut wird, weiß derzeit niemand.

In meiner Kolumne schreibe ich über das Meer und suche nach Menschen, die etwas für die Gemeinschaft tun. Gemeinschaft, das Wort wird immer wichtiger, denke ich. 

So viel war los auf See: Ein vollbeladener Supertanker trieb tagelang vor Rügen. Das Havariekommando Cuxhaven rettete einem Seemann im Herbststurm das Leben. Dutzende Male brach eine Bande in ein Terminal des Hamburger Hafens ein und ließ sich absurderweise Dutzende Male erwischen. Eine Monsterwelle traf ein Kreuzfahrtschiff auf der Nordsee, was auf wundersame Weise niemanden das Leben kostete. Rungholt gab es wirklich! Und als die schlimmste Sturmflut seit einem Jahrhundert auf die Ostseeküste traf, erlebte ich das bei acht Meter Seegang auf der Finnlandfähre.

Das sind meine Höhepunkte des Jahres 2023:

Die erstaunlichste Folge: Rungholt oder das Wunder im Watt (Mai, Folge 206)

Als ich die Nachricht las, konnte ich sie zunächst nicht glauben. „Forscher finden Kirche von versunkener Siedlung Rungholt“. Bitte was? Unmöglich! Doch da stand es, und auf der Seite der Universität Kiel gab es Fotos von Wissenschaftlern im Watt. Das war kein künstlich intelligent fabrizierter Quatsch, keine Falschmeldung und kein Klickmittel. Die Kirche von Rungholt, entdeckt vor Hallig Südfall.

Rungholt, das nordische Atlantis

Seit ich ein kleiner Junge war, fasziniert mich diese Geschichte und ich habe alles darüber gelesen. Rungholt, das nordische Atlantis, die versunkene Stadt. Angeblich eine der reichsten Siedlungen des Mittelalters, die im Januar 1362 in einer gewaltigen Sturmflut – der „Groten Mandränke“ – fortgespült wurde mit allem Leben.

Ein spezieller Metallrahmen ermöglicht im Watt archäologische Grabungen von einem Quadratmeter Größe, die während einer Ebbe ausgegraben und dokumentiert werden können. Ruth Blankenfeldt, Schleswig, Universität Kiel
Forscher bei Ausgrabungsarbeiten im Watt
Ein spezieller Metallrahmen ermöglicht während einer Ebbe archäologische Grabungen von einem Quadratmeter Größe.

Wer nur ein bisschen Herz hat für maritime Dinge, muss diese Sage einfach lieben. Mehr als eine Legende gab es über Jahrhunderte auch nicht. Der Mythos einer reichen Stadt, die sich die Nordsee holte. Der Pfarrer Anton Heimreich von der Insel Nordstrand schrieb die Sage 1634 auf, und dann passierte lange nichts.

Die abenteuerlichste Folge: Reise ins Land des Vielleicht (März, Folge 196)

Selbst die Alten konnten sich nicht daran erinnern, wann zuletzt so viel Schnee auf den Inseln gefallen war. Sobald der Bus die Berge erreichte, bot sich daher mehr Abenteuer, als uns das lieb war. Bei Schnee und Eis und Matsch auf engen Straßen unterwegs zu sein, die steil in den Nordatlantik abfallen, daran muss man sich erst gewönnen.

„Land of Maybe“, so nannte ein britischer Soldat, der im Zeiten Weltkrieg hier stationiert war, die Färöer

Selbst Fahrer Jogvan, der eine stoische, wikingereske Ruhe ausstrahlt und darauf hinwies, dass er in Dänemark ein Bustraining auf Eis absolviert hatte, war eine gewisse Nervosität anzumerken. Vor einer besonders steilen Steigung griff er jedenfalls häufiger also sonst in die Tüte mit Süßigkeiten auf dem Armaturenbrett.

Urwüchsige Landschaft: die Färöer Imago
Urwüchsige Landschaft: die Färöer, felsige Berge, keine Vegetation, Wasser
Urwüchsige Landschaft: die Färöer

So ist das, wenn man im Land des Vielleicht unterwegs ist. „Land of Maybe“, so nannte ein britischer Soldat, der im Zeiten Weltkrieg hier stationiert war, die Färöer. Denn „Kanska“ – übersetzt: vielleicht – ist das vermutlich meistgesprochene Wort auf den 18 Inseln der Schafe. Auf dem 62. Breitengrad fällt fünf Mal so viel Regen wie auf den regenreichen Britischen Inseln, hier gibt es fünfhundert Mal so viel Wind. Vielleicht geht morgen die Fähre. Vielleicht spielen wir morgen Fußball. Vielleicht klappt morgen der Ausflug.

Die unmenschlichste Folge: Blinde Passagiere (Juli, 213)

Fünftausend Seemeilen, das sind mehr als 9200 Kilometer. Auf dem Ruder und im Ruderkoker eines Großcontainerfrachters. Wenig Wasser, kaum Nahrung. Permanent die Angst, in den Atlantik zu fallen. Hitze, unglaubliche Enge, Panik. Was, wenn es einen Sturm gibt? Hat jemand bereits mit dem Leben abgeschlossen, der solch eine Flucht plant?

Ich kann mir nicht mal vorstellen, was die vier blinden Passagiere durchlitten, die von der brasilianischen Bundespolizei im Hafen von Vitória entdeckt wurden. 13 Tage lang war der Frachter unterwegs von Lagos in Nigeria. Die Männer, gesundheitlich schwer angeschlagen, kamen ins Krankenhaus. Ihnen droht die baldige Abschiebung, was bedeutet: Ihr Martyrium war vergeblich.

Tagelang hatten die Männer auf dem Ruder des Tankers ausgeharrt, bis die Küstenwache sie fand. Imago
Das Ruder eines Tankschiffes
Tagelang hatten die Männer auf dem Ruder des Tankers ausgeharrt, bis die Küstenwache sie fand.

Auf Gran Canaria finden spanische Seenotretter währenddessen zwei Flüchtlinge, die auf dem Ruder des Großcontainerfrachters „MSC Marta“ auf die Kanaren reisten. Nach Berichten aus Spanien konnten sie sechs Tage lang nicht mal aufrecht stehen. Sie sind 18 und 22 Jahre alt.

Wie unendlich verzweifelt müssen Menschen sein? Und wie viele haben es nicht geschafft und starben unbemerkt? Was mich aber auch beschäftigt, was mich wütend macht, das sind manche Reaktionen. Zuletzt sah sich die spanische Küstenwache angesichts eines Shitstorms von Rechtsextremen gezwungen, zu belegen, dass man die Stowaways (wie blinde Passagiere viel schöner im Englischen heißen) auch wirklich fotografierte. 

Die gemütlichste Folge: Verliebt in eine alte Lissie (August, Folge 218)

Das Gefühl für pure Seefahrt, ganz so, wie sie früher einmal war, setzt eine Stunde nach der Hafenausfahrt von Rostock ein. Kapitän Christian Meyer hat den Diesel abgeschaltet und einige Segel setzen lassen. Nun gleitet der Dreimast-Gaffelschoner „Großherzogin Elisabeth“, liebevoll „Lissi“ genannt, mit der Kraft einer leichten Brise über die Ostsee.

Nur leises Wellenklatschen ist zu hören und sämtliche Probleme sind hinter dem Horizont verschwunden.

Die anderen Passagiere sind unter Deck, in der gemütlichen Messe, in der ein Smut Chili austeilt, und es ist still an Deck. Nur leises Wellenklatschen ist zu hören und sämtliche Probleme sind hinter dem Horizont verschwunden. Kein Handy-Empfang.

Die spannendste Folge: Wie sich ein Mafia-Killer auf Sylt versteckte (September, Folge 221)

Der Mafia-Killer war als ein Mann der sanften Hände bekannt und wurde besonders von der weiblichen Kundschaft gerne gebucht. Als Masseur in einem Luxushotel auf Sylt, drei Sterne unter Reet im Landhausstil. Bis letzte Woche sorgte „Alessio“, wie er sich nannte, unter anderem für entspannte Nackenmuskulatur. Dann schlug ein Sondereinsatzkommando des Landeskriminalamtes Schleswig-Holstein zu.

Gibt es ein besseres Versteck als eine Insel in der Nordsee? Keitum, ein Inseldorf, wo großmotorisierte Autos vor einigen der teuersten Kapitänshäuser Deutschlands parken und Möwen über makellos manikürte Vorgärten segeln. Monatelang hatte sich Valerio Salvatore C., Mitte 40, hier versteckt.

Die dramatischste Folge: Sturm Ciarán und die Monsterwelle (November, Folge 230)

Der Sturm trug schon einen bedrohlichen Namen, der klang wie ein finsterer Fürst in einem Historiendrama. Ciarán, aus dem Irischen, eine Ableitung von „ciar“, was „dunkel“ meint. Mit Windgeschwindigkeiten von knapp 200 Stundenkilometern zog der Orkan über die französische Atlantikküste, Englands Süden und die Kanalinseln.

Was zurückblieb, waren mindestens sieben Tote in Nordeuropa, schwere Verwüstungen unter anderem auf Jersey und eine Messung, die mir nicht aus dem Kopf geht. Vor dem Departement Finistère, also vor dem westlichsten Zipfel der Bretagne, wurde eine 21 Meter hohe Welle gemessen. Wirklich: 21 Meter.

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