Seenotrettung im Mittelmeer: Das Drama unter dem Radar
Rom/Tunis –
Die ganze Welt spricht über Corona. Doch während zumindest Europa die Pandemie langsam in den Griff kriegt, wird eins der größten Probleme vor der eigenen Haustür seit Monaten verdrängt. Immer noch begeben sich Menschen regelmäßig in Lebensgefahr, um übers Mittelmeer zu gelangen, um Krieg, Armut oder Verfolgung zu entkommen. Dieser Tage landeten wieder über 2000 Geflüchtete auf der italienischen Insel Lampedusa. 500 sind laut UN-Angaben in diesem Jahr bereits auf dem Weg gestorben.
Erst vor zwei Tagen wurden wieder fünf Tote in der Nähe von Tripolis angeschwemmt, darunter ein Kind. 2128 Lebende landeten am Wochenende auf Lampedusa. Im dortigen Auffanglager haben normalerweise aber nur 250 Menschen Platz. Viele der Männer, Frauen und Kinder mussten draußen schlafen. Zwei Quarantäne-Schiffe und eine Fähre sollen nun Abhilfe schaffen.
12.000 Menschen in vier Monaten
In den ersten vier Monaten des Jahres kamen über den Seeweg rund 12.000 Migrant:innen nach Italien. Erfahrungsgemäß werden es mit besserem Wetter und glatterer See noch mehr. Noch deutlicher als in den vergangenen Jahren hat man aber den Eindruck, als ob die Verantwortlichen – vor Ort genauso wie in Brüssel – überrascht davon seien.
Innerhalb der italienischen Regierungs-Koalition von Mario Draghi kam es zuletzt zu Spannungen. Vor allem von den rechten Parteien kamen Forderungen an die Koalitionspartner.
Salvini spielt Migrant:innen gegen Italiener:innen aus
Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega twitterte: „Angesichts von Millionen Italienern, die in Schwierigkeiten stecken, können wir uns nicht um Tausende Illegale kümmern.“ Von seiner parteilosen Nachfolgerin im Innenministerium, Luciana Lamorgese, forderte er, endlich etwas gegen die Migrant:innen zu unternehmen.
Giorgia Meloni von der ultrarechten Partei Fratelli d’Italia forderte von Lamorgese „eine sofortige Seeblockade“. Die Innenministerin und Ministerpräsident Draghi kündigten an, sich zu kümmern.
Sea-Watch 4 erneut festgesetzt
Wie dieses Kümmern aussehen könnte, erfuhr die Organisation Sea-Watch dieser Tage. Deren Rettungsboot „Sea-Watch 4“ hätte gerade nach einer mehrmonatigen Blockade wieder starten können. Doch die italienische Küstenwache legte Einspruch ein, nun sitzt das Boot wieder im Hafen der sizilianischen Stadt Trapani fest. Genau wie die „Sea-Watch 3“ im nah gelegenen Augusta. Die Begründung: Ihre Schiffe seien nicht als Rettungsschiffe registriert.
Tatsächlich geht es wohl darum, den Seenotrettern die Arbeit möglichst zu erschweren. Fratelli-Parteichefin Meloni wettert, man müsse „die Schlepper und die humanitären Organisationen stoppen“. Das Argument: Erst die Seenotretter würden Migrant:innen anlocken, man spricht von einem „Pull-Faktor“.
Einen „Pull-Faktor“ scheint es nicht zu geben
Tatsächlich aber scheint sich diese Annahme nicht zu bestätigen. Obwohl über Monate keine privaten Seenotretter im Einsatz waren, ist die Zahl der Geflüchteten, die über das Mittelmeer nach Italien kommen, im Vergleich zum Vorjahreszeitraum keineswegs gesunken. Im Vergleich zu den 12.000 Migrant:innen jetzt kamen zur gleichen Zeit vor einem Jahr lediglich 4105 an, im Jahr 2019 waren es sogar nur 842. Natürlich dürften auch viele vor den prekären Corona-Verhältnissen in nordafrikanischen Ländern fliehen. Aber die Privat-Organisationen zu behindern, scheint die Menschen in Not nicht von ihrer Reise abzuhalten.
Der Bürgermeister von Lampedusa, Toto Martello, betonte in Richtung von Salvini und Meloni: Es sei „unverantwortlich, den sozialen Hass zu befeuern, indem man die Italiener gegen die Migranten stellt“. Und eine Seeblockade? „Eine dermaßen evidente Dummheit, dass sie keinerlei Kommentar verdient.“
Seehofer: „Nicht wieder in bedenkliche Größenordnungen kommen“
In Deutschland äußerte sich Innenminister Horst Seehofer (CSU) zu den Entwicklungen der Migration nach Europa. Es zeichne sich ab, „dass die Migrationszahlen wieder deutlich steigen, insbesondere auf der Balkanroute“. Darüber werde er mit seiner Fraktion sprechen. „Wir müssen etwas tun, damit wir nicht wieder in bedenkliche Größenordnungen kommen.“
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Aus Deutschland indes ist das Rettungsboot „Sea-Eye“ 4 unterwegs, am Freitag soll sie im Einsatzgebiet im Mittelmeer ankommen. An Bord als Sanitäter: Der Hamburger Ex-Moderator Tobi Schlegl. Sea-Eye-Sprecher Gorden Isler zur MOPO: „Ich fürchte, dass in den kommenden Wochen sehr viele Menschen das Leben verlieren könnten.“ Wichtig sei jetzt: „Die EU-Staaten müssen sofort staatliche Rettungsschiffe entsenden.“ Nur gemeinsam könne die Aufgabe bewältigt werden.