Hamburger Star-Autor: Um ein Haar hätten sie Wolfgang Borchert zum Tode verurteilt
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Wolfgang Borchert ist gerade mal 26 Jahre alt, als er 1947 stirbt. Was hätte er der Welt noch für Bücher schenken können, wenn ihm mehr Zeit vergönnt gewesen wäre? Zu Borcherts Schicksal gehört, dass er die Uraufführung seines größten Werkes nicht erlebt hat. Am Tag, bevor in den Hamburger Kammerspielen der Vorhang für „Draußen vor der Tür“ aufging, hauchte der Schriftsteller in einem Schweizer Klinikum sein Leben aus.
„Draußen vor der Tür“ – das ist die Geschichte des Kriegsheimkehrers Beckmann, der nach drei Jahren Gefangenschaft zurück ist in Hamburg und nicht nur vor den Trümmern der Stadt, sondern auch vor den Trümmern seines Lebens steht. Während Beckmann selbst noch geprägt ist von den Erfahrungen an der Front, haben die Mitmenschen längst alles verdrängt. Beckmann findet keinen Platz in dieser Gesellschaft. Er fragt nach dem Sinn des Lebens. Aber er erhält keine Antwort.
„Draußen vor der Tür“ ist eine Anklage, ein Aufschrei
Am Abend der Uraufführung – es ist der 21. November 1947 – tritt Ida Ehre, die Intendantin der Kammerspiele, vors Publikum und lässt die Zuschauer wissen, dass tags zuvor der Autor gestorben ist. „Alle sind aufgestanden“, so erinnert sich Ida Ehre später. „Wir haben einige Minuten stillschweigend verbracht.“
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Nach der Aufführung bleiben die Zuschauer noch lange schweigend sitzen. Totenstill ist es im Saal. Erst dann setzt Applaus ein, der gar nicht mehr enden will. Das Stück hat jeden, der es gesehen hat, bis ins Mark getroffen. Borchert spricht darin genau das aus, was alle beschäftigt, was aber die meisten tief in sich vergraben haben. „Draußen vor der Tür“ ist eine Anklage. Ein Aufschrei.
Am 20. Mai 1921 – also vor bald 100 Jahren – kommt der berühmteste Autor der Stadt in Eppendorf zur Welt. Er wächst als einziges Kind in einem kulturell aufgeschlossenen Elternhaus auf – sein Vater Fritz ist Volksschullehrer, Mutter Hertha schreibt in ihrer Freizeit plattdeutsche Geschichten. Wie die meisten seiner Altersgenossen wird Wolfgang Borchert Mitglied der Hitler-Jugend, doch früh erwacht der Rebell in ihm. Die Nazis verlangen Disziplin und Gehorsam – Tugenden, die ihm zuwider sind. Er widersetzt sich, sieht in seinen Eltern angepasste Spießer, wird zum Anhänger der Swingjugend, kleidet sich auffällig, trägt das Haar lang, hört amerikanische Musik und bringt schlechte Noten mit nach Hause.
Mit 18 schreibt Borchert eine Parodie auf Hitler: „Käse“
Seine Leidenschaft gehört der Literatur. Mit 15 Jahren beginnt er, Gedichte zu schreiben, die allerdings kaum Begabung erkennen lassen. Zusammen mit einem Freund verfasst er 18-jährig eine Komödie, die den Titel „Käse“ trägt und von einem Käsehändler handelt, der die Welt erobert – eine Hitler-Parodie, die Borchert für einen ganz großen Wurf hält, aber davon weit entfernt ist. Zum ersten Mal nimmt jetzt die Gestapo Notiz von dem aufmüpfigen jungen Mann und durchsucht sein Zimmer nach staatsfeindlichen Notizen.
Nachdem Borchert 1937 im Thalia-Theater Gustaf Gründgens als Hamlet gesehen hat, fällt sein Entschluss, Schauspieler zu werden. Als er dann aber 1938 die Schule ohne Abschluss verlässt, vermitteln ihm die Eltern eine Buchhändlerlehre bei der alteingesessenen Buchhandlung C. Boysen – doch die Arbeit erfüllt ihn nicht.
Zwei Monate genießt er das Vagabundenleben bei der Wanderbühne
Da ist immer noch der Traum vom Theater. Jedes Wochenende nimmt Borchert Schauspielunterricht, und kurz bevor er seine Schauspielprüfung besteht, bricht er Ende 1940 die Lehre ab und nimmt ein Engagement an der Landesbühne Osthannover in Lüneburg an. Es folgen die schönsten Monate seines Lebens. Das herrliche Vagabundenleben an der Wanderbühne genießt er in vollen Zügen.
Dann holt ihn die Realität des Krieges ein: Er wird eingezogen, kommt an die Ostfront, wo er 1942 von einem Patrouillengang mit einer Schussverletzung an der Hand zurückkommt. Er wird festgenommen und wegen des Vorwurfs, sich selbst verstümmelt zu haben, vors Militärgericht gestellt: Die Anklage fordert die Todesstrafe, aber er hat Glück und erhält einen Freispruch. Allerdings wird er in einem zweiten Verfahren wegen „wehrkraftzersetzender Äußerungen“ zu Gefängnis verurteilt und nach sechs Wochen zur „Frontbewährung“ entlassen.
Erfrorene Füße, Gelbsucht und Fleckfieberverdacht
Als Melder ohne Waffe ist er im Dezember 1942 wieder an der Ostfront im Einsatz. Mit Fußerfrierungen, Gelbsucht und Fleckfieberverdacht landet er Ende Januar 1943 im Lazarett. Er beantragt jetzt eine Versetzung zur Schauspieltruppe der Wehrmacht. Doch dazu kommt es nicht. Er parodiert vor seinen Kameraden Propagandaminister Goebbels, wird denunziert, erneut angeklagt und im September 1944 zur „Feindbewährung“ entlassen.
Nachdem sich seine Einheit in der Nähe von Frankfurt/Mai den französischen Truppen ergeben hat, gelingt ihm die Flucht. Die 600 Kilometer bis nach Hamburg schlägt er sich zu Fuß durch und erreicht sein Elternhaus schwer krank am 10. Mai 1945.
Als er weiß, er wird sterben, schreibt er wie ein Besessener
Der Krieg ist aus – und in ihm erwacht der Tatendrang. Doch sein körperlicher Zustand lässt kontinuierliches Arbeiten kaum zu. Im November 1945 kommt er ins Elisabeth-Krankenhaus am Kleinen Schäferkamp, wo die Ärzte schnell erkennen, dass er ein hoffnungsloser Fall ist. Als die Ärzte Borchert eröffnen, dass er wegen seines schweren Leberleidens nicht mehr lange zu leben hat, beginnt er wie besessen zu arbeiten – so als müsse er jetzt jede Sekunde nutzen.
Im Krankenbett schreibt er sein erstes großes Prosastück: „Die Hundeblume“. Ein zum Tode Verurteilter macht darin eine kleine Blume im Gefängnishof zum Objekt seiner Sehnsucht. Das Werk überrascht durch einen bisher unbekannten Ton. Unter dem Eindruck der Kriegserfahrungen hat Borchert jetzt zu seinem ganz eigenen Stil gefunden. In wenigen Monaten entstehen all die Werke, die noch heute von ihm gelesen und gespielt werden. Aus einem „Allesversucher und Nichtskönner“, so Peter Rühmkorf, wird plötzlich der meist diskutierte Autor in Nachkriegsdeutschland.
Rühmkorf nennt Borchert einen „verhinderten Komiker“
Wolfgang Borchert verbinden viele mit Tragik und Pathos, dabei war er ein lebenslustiger Menschen. Einen „verhinderten Komiker“ hat Biograf Peter Rühmkorf ihn mal genannt. Dazu passt die kleine Episode, die sich während des Krankenhausaufenthaltes ereignet: Er himmelt eine 21-jährige Mitpatientin an, die zwei, drei Türen weiter ihre Gelbsucht auskuriert. Liebesgedichte an das „Hannelörchen“ mit den „süßen Öhrchen“ schreibt er. „Alle anderen sind mir völlig schnuppe“, so umgarnt er „die Wunderbare“. „Ich seh‘ den ganzen Tag nur deine hochgekämmten Haare. Sogar im Traum und – in der Suppe!“
Borchert hat Pech. Seine Gefühle werden nicht erwidert. Hannelore ist schon verlobt. „Leider hab ich großen Liebeskummer“, schreibt Borchert. „Der raubt mir jede Nacht den Schlummer – auf ihrem Bett hockt schon ein anderer Brummer!“ Ganz offensichtlich hat er aber einen nachhaltigen Eindruck bei der jungen Frau hinterlassen. Immerhin nennt die ihren Sohn, der einige Zeit später zur Welt kommt, nach ihm: Wolfgang. Die Liebesgedichte bewahrt sie ein Leben lang. Erst vor fünf Jahren machte ihr Sohn die Texte öffentlich.
Der erste Autor, der nach 1945 die Sprache wiederfand
Mit dem Buch „Draußen vor der Tür“, das als Hörspiel bereits im Februar 1947 im NWDR ausgestrahlt wird und eine aufgeregte Debatte auslöst, hat er seinen großen Durchbruch. Ida Ehre animiert den jungen Schriftsteller, aus seinem Werk eine Theaterfassung für die Hamburger Kammerspiele zu schreiben. Diesen Auftrag vollendet er noch.
Im September 1947 begibt sich Wolfgang Borchert erneut ins Krankenhaus, diesmal nach Basel. Er hofft, dass ihm Schweizer Ärzte vielleicht doch noch helfen können. Doch eine Besserung bleibt aus. Der Schriftsteller, der die deutsche Nachkriegsliteratur stärker geprägt hat als jeder andere, stirbt am 20. November 1947.
Borcherts Verdienst ist es, der Kriegsgeneration, die um das Leben betrogen wurde, eine Stimme gegeben zu haben. Schriftsteller Siegfried Lenz („Deutschstunde“) hat einmal gesagt, Borchert sei der erste Autor, der nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs die Sprache wiedergefunden hat.
Seit dem 11. Mai: Borchert-Ausstellung in der Stabi
Das Wolfgang-Borchert-Zimmer im Altbau der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg galt unter Literaturinteressierten als Geheimtipp, seit Borcherts Mutter Hertha 1976 den Nachlass ihres Sohnes der Bibliothek vermacht hatte. In Borcherts 100. Geburtsjahr zieht der Nachlass, bestehend aus seinen Möbeln, seinen Büchern, Tabakspfeife, der berühmten Küchenuhr und vielen weiteren Objekten, nun in eine „bessere Lage“: Am 11. Mai wurde im Hauptgebäude der Bibliothek die „Borchert-Box“ eröffnet, ein Glaskasten mit zwei Räumen, in denen die neue Ausstellung „Dissonanzen. Wolfgang Borchert (1921-1947)“ Platz findet.
„Die Borchert-Box ist als dauerhaftes Angebot geplant“, so Kurator Konstantin Ulmer. „Sie wird sieben Tage die Woche bis 24 Uhr zugänglich sein, wenn wir wieder im Normalbetrieb sind.“ Zudem sei ein Großteil der Ausstellung über die Ausstellungswebsite zugänglich: https://borchert.sub.uni-hamburg.de.
Mit der Ausstellung wagt die Staats- und Universitätsbibliothek einen Spagat. Sie möchte einer neuen Generation von Leserinnen und Lesern einen Erstkontakt mit Borchert ermöglichen und gleichzeitig denjenigen, die Autor und Werk gut kennen, Neues präsentieren.
Mit der Ausstellung und einer Reihe von (Online-)Veranstaltungen leistet die Stabi auch ihren Beitrag zu dem stadtweiten Festival „Hamburg liest Borchert“ (www.hamburgliest.de), mit dem der Jubilar noch bis zum 12. Juni gefeiert wird.