Das Eriksen-Drama: Die Dänen sind schon die Mannschaft der EM
Es waren die dramatischsten Minuten der EM-Geschichte. Momente, in denen der Fußball jede Bedeutung verloren hatte. Szenen, die wohl niemand vergessen wird, der sie ansehen oder miterleben musste.
Am Samstag um 18.43 Uhr war diese Fußball-Europameisterschaft eine andere geworden. Christian Eriksen, der Top-Star der dänischen Nationalmannschaft, war nach einem Einwurf zusammengebrochen. Bis dahin hatten 15.200 Fans im Kopenhagener Stadion ein Fußballfest gefeiert. Dänen und Finnen gemeinsam. Nun aber, als klar wurde, dass dort unten ein 29-jähriger Mann, ein Vater zweier Kinder, um sein Leben kämpft, überrollte eine Lawine der Stille die Szenerie.
Simon Kjaer wird als Ersthelfer zu einem Helden in Kopenhagen
Simon Kjaer verstand als einer der ersten auf dem Platz, wie dramatisch die Situation war. Kjaer ist Kapitän der dänischen Nationalmannschaft. Kjaer spielt bei der AC Mailand. Eriksen bei Inter Mailand. Rivalisierende Vereine. Befreundete Männer. Und Kjaer wird zu einem Helden an diesem Abend. Noch bevor die Ärzte und Sanitäter bei Eriksen sein können, bringt der 32-Jährige ihn in die stabile Seitenlage, greift in seinen Rachen, trägt dafür Sorge, dass Eriksen seine Zunge nicht verschluckt.
Kjaer war in Deutschland einst als Flop verspottet worden, weil er beim VfL Wolfsburg, der ihn 2010 verpflichtet hatte, nicht mit den Methoden von Felix Magath zurechtgekommen war. Beiträge, in denen dem tätowierten Hünen die charakterliche Eignung als Profi abgesprochen wird, finden sich zuhauf im Netz.
Simon Kjaer trägt auf der Schulter das Tattoo eines Schutzengels und den Schriftzug „Guiding“, „Coaching“ und „Protection“. Führen. Lehren. Schützen.
Kapitän Kjaer organisiert den Schutzschild, um die Würde von Christian Eriksen zu wahren
In Extremsituationen, so sagt man landläufig, zeigt sich der wahre Charakter eines Menschen. Kjaer, dieser „Captain Fantastic“, wie ihn die „Daily Mail“ kurzerhand tauft, ruft seine Kollegen zusammen, lässt sie einen Kreis bilden um Eriksen, bei dem die Ärzte direkt bei ihrem Eintreffen noch einen Puls hatten spüren können. Nun nicht mehr. Herzdruckmassage. Überlebenskampf. Die Zuschauer im Stadion, darunter viele Kinder, und Hunderte Millionen Menschen rund um den Erdball sollen diese Szenen nicht sehen. Es geht um Würde. Es geht um Menschlichkeit.
Joakim Maehle, Andreas Christensen, Daniel Wass, Pierre-Emilie Höjbjerg, Thomas Delaney, Yussuf Poulsen, Jonas Wind, Martin Braithwaite, Kasper Schmeichel, Simon Kjaer. Sie sind der Schutzschild für Eriksen. Fast 20 Minuten stehen sie dort. Arm in Arm. Ein Bild, das größer ist als diese EM. Ein Bild zum Heulen.
Kjaer und Schmeichel trösten die Freundin von Christian Eriksen
Sabrina Kvist Jensen (28) kommt in den Innenraum. Seit neun Jahren ist sie die Frau an Christian Eriksens Seite. Die beiden haben zwei gemeinsame Kinder. Kjaer geht auf sie zu, nimmt ihren Kopf in beide Hände, spricht auf sie ein. Ganz ruhig. Gemeinsam mit Torwart Kasper Schmeichel nimmt er sie in die Arme. Herzen zerreißen.
Auf den Tribünen rufen Menschen „Christian“. Es sind die finnischen Fans, die die Stille zerstören. Ganz vorsichtig. Mutig. Die Dänen antworten. „Eriksen“. Erst leise, dann lauter.
Der Daumen eines Arztes geht nach oben. Eriksens Augen öffnen sich.
Er lebt.
In dem Moment ist klar, dass es bei dieser EM keine größere Nachricht als diese geben wird, geben kann.
Dänemark verliert gegen Finnland – dänische Zeitung gibt allen Spielern die Note 1
80 Minuten später führt Kjaer seine Dänen zurück aufs Feld. 80 Minuten später! 80 Minuten, nachdem die Männer um das Leben eines Teamkollegen und Freundes gezittert haben, sollen sie wieder ihrer Arbeit nachgehen. Kjaer spielt mit Tränen in den Augen. 20 Minuten lang. Dann geht es nicht mehr. Kjaer lässt sich auswechseln.
Die Dänen verschießen noch einen Elfmeter. Die Fußballstatistikbücher werden sie als Verlierer dieses Spiels ausweisen. 0:1 gegen Finnland.
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Von der dänischen Zeitung „BT“ bekommt jeder Einzelne von ihnen die Note 1. Um die Mannschaft der EM zu werden, müssen die Dänen keinen Punkt bei diesem Turnier holen. Sie sind es schon.