Ex-„Speaker“ bricht mit den Tories
„Order, order!“ Mit seinen energischen Ordnungsrufen im Brexit-Chaos hat der Ex-Unterhauspräsident John Bercow über Großbritanniens Grenzen hinaus Kultstatus erreicht. Jetzt ist der Brexit-Gegner und einst überzeugte Tory zur oppositionellen Labour-Partei übergelaufen – und nutzt das auch für eine Abrechnung mit Premier Boris Johnson.
„Er ist ein erfolgreicher Wahlkämpfer, aber ein lausiger Regierender“, sagte Bercow über Johnson. „Ich glaube nicht, dass er eine Vision für eine gerechtere Gesellschaft hat, irgendeinen Hunger für soziale Mobilität oder eine Leidenschaft, das Los der Menschen zu verbessern, denen es nicht so gut geht wie ihm“, so der 58-Jährige in einem Interview mit dem „Oberserver“, das am Sonntag veröffentlicht wurde. Immer mehr Menschen hätten es satt, „Lügen und leere Parolen“ zu hören.
Bercow hält Tories für „reaktionär, populistisch, nationalistisch“
Bercow hat oft betont, dass er den Brexit für „den größten außenpolitischen Fehler seit der Nachkriegszeit“. Die Tories betrieben eine „reaktionäre, populistische, nationalistische und mitunter ausländerfeindliche“ Politik, sagte er. Johnsons Regierung müsse daher abgelöst werden und nur die Labour-Partei sei in der Lage, dieses Ziel zu erreichen, sagte Bercow.
Seinen Parteiwechsel habe er vor einigen Wochen vollzogen, so Bercow. Grund: Er stehe den Werten der Oppositionspartei heute näher als denen der Konservativen. Er hatte den Tories seit 1980 angehört, wurde 1997 Abgeordneter und saß dem Unterhaus von 2009 bis 2019 vor.
Bercow hatte als Unterhauspräsident einen durchaus eigenwilligen Still. So setzte er sich gern für die Rechte kleinerer Parteien und Hinterbänkler ein. Und er legte er die Rechte der Abgeordneten großzügig aus und machte so vor allem der Ex-Premierministerin Theresa May immer wieder Ärger. Zeitweise konnte etwa eine Gruppe von Brexit-Gegnern bei den regierenden Tories mithilfe der Opposition den Gesetzgebungsprozess in die Hand nehmen, um den Weg zu einem No-Deal-Brexit zu versperren.
Boris Johnson mit Retourkutsche
Als Boris Johnson das Parlament später in eine Zwangspause schickte, fand Bercow deutliche Worte. Es handle sich um einen „Akt exekutiver Ermächtigung“, sagte er damals. Später gab ihm das oberste Gericht Recht und erklärte die Parlamentsschließung für rechtswidrig.
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Wohl als Retourkutsche nominierte Johnson Bercow nicht, wie eigentlich für ehemalige Unterhauspräsidenten üblich, als Mitglied für das Oberhaus. Keinem anderen „Speaker“ in mehr als zwei Jahrhunderten wurde diese Ehre nicht zuteil. (dpa/ilk)