Denkmal ermordete Kinder
  • Für die Kinder, die im ehemaligen Kinderkrankenhaus Rothenburgsort ermordet wurden, wurde vor dem Gebäude ein Denkmal eingeweihnt.
  • Foto: Düsterhöft

Mitten in Hamburg wurden Babys und Kleinkinder ermordet – jetzt wird an sie erinnert

Mindestens 127 Babys und Kleinkinder mit Behinderung wurden während des Nationalsozialismus von Ärzt:innen mitten in Hamburg ermordet. Ein Denkmal erinnert nun an sie. Bei der Einweihung gab es bewegende Worte von Angehörigen – und schockierende Einblicke in die Gedankenwelt der Täter:innen: alles Menschen, die den Eid geschworen hatten, anderen Menschen zu helfen.

Antje Hinrichs lebte nur vier Jahre und neun Monate, dann wurde sie ermordet. Weil man sie mit der Diagnose „Schwachsinn“ versehen hatte, weil ein leitender Mediziner 1943 über sie schrieb, sie müsse „vollständig besorgt“ werden und werde später „für nichts zu gebrauchen sein“. Das kleine Kind wurde mit einem stark überdosierten Schlafmittel getötet von einem Menschen, der ihr eigentlich helfen sollte: einer Ärztin am damaligen Kinderkrankenhaus Rothenburgsort.

Die Ermordung der kleinen Antje, sie war eine der vielen unfassbaren Taten, die zwischen 1940 und 1945 in Rothenburgsort verübt wurden. Die Namen von insgesamt 127 Opfern sind heute bekannt. Mit großer Wahrscheinlichkeit wurden noch sehr viel mehr Kinder mit körperlicher oder geistiger Behinderung an dem Krankenhaus mitten in Hamburg ermordet. Umgebracht, weil die Nazis ihr Leben nicht für lebenswert hielten, ihrer menschenverachtenden Vorstellung von einem „erbgesunden deutschen Volk“ folgten – und Ärzt:innen mitmachten.

Drei der in Rothenburgsort ermordeten Kinder: Gerhard Pribbenow (ermordet 4.7.1944), Findelkind Siegfried (ermordet 9.10.1944), Antje Hinrichs (ermordet 27.10.1944) Stiftung Alsterdorf/Archiv
Drei der in Rothenburgsort ermordeten Kinder
Drei der in Rothenburgsort ermordeten Kinder: Gerhard Pribbenow (ermordet 4.7.1944), Findelkind Siegfried (ermordet 9.10.1944), Antje Hinrichs (ermordet 27.10.1944)

Denkmal erinnert an ermordete Kinder

Für die ermordeten Kinder wurde am Dienstag vor dem ehemaligen Kinderkrankenhaus Rothenburgsort, heute Sitz des Hamburger Hygiene-Instituts, ein Denkmal eingeweiht: Ein Schattenriss einer Ärztin oder Pflegerin am Krankenbett eines Kindes, daneben Stelen mit Infos und den bekannten Namen und dem Alter der Kinder bei ihrer Ermordung: Das jüngste bekannte Opfer, Ulrich Johns, lebte nur einen Tag lang. Traute Berta Katharina Mertins wurde im Alter von sechs Jahren und sechs Monaten umgebracht.

„Sie, liebe Verwandte der Kinder, haben ihre Namen bewahrt und nach den Umständen ihres Todes geforscht, haben tiefen Kummer gelitten, Ungewissheit ausgehalten und die ohnmächtige Verzweiflung über so unmenschliches Handeln ertragen“, sagt Hildegard Thevs bei der Einweihung des Denkmals. Thevs schreibt seit vielen Jahren die Biografien von NS-Opfern auf, hat für das neue Denkmal gekämpft. „Wo Schatten ist, ist auch Licht“, sagt sie. „Dieses Licht sind wir, werfen wir alle, die wir hier versammelt sind.“

„Jedes Kind, an das wir heute denken, hat eine Geschichte zu erzählen“

Anwesend sind viele Angehörige der ermordeten Kinder. Einer von ihnen ist Jan Williams. Der Kanadier ist Neffe von Brunhild Stobbe, die im Alter von sieben Monaten ermordet wurde: „Bruni“, sei ein „süßes Baby“ gewesen, habe seine Mutter – die ältere Schwester des getöteten Kindes – ihm erzählt. Seine Oma, Brunhilds Mutter, habe viele Jahre um das Kind getrauert, ihren Tod nie überwunden.

„Jedes Kind, an das wir heute denken, hat eine Geschichte zu erzählen“, sagt Williams. Die Opfer wären heute in einem Alter, in dem sie selbst Großeltern sein könnten. „Lasst uns ihre Stimmen hören und ihre Erinnerungen behalten“, sagt Williams. Viele der Anwesenden haben Tränen in den Augen.

Auf Stehlen finden sich Informationen und die Namen der bekannten Opfer. Düsterhöft
Auf Stehlen finden sich Informationen und die Namen der bekannten Opfer.
Auf Stehlen finden sich Informationen und die Namen der bekannten Opfer.

Ärzt:innen handelten „aus eigenem Antrieb“

Dr. Michael Wunder, Mitglied im Deutschen Ethikrat, früher Psychologe in Alsterdorf und ausgezeichnet für seine Forschung zu den Krankenmorden der Nazis, mahnt die persönliche Schuld der Mediziner:innen in Rothenburgsort an: „In diesem Gebäude haben Ärzte und Ärztinnen, die den hypokratischen Eid geschworen hatten, behinderte und kranke Kinder ermordet – aus eigenem Antrieb.“

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Der damalige Klinikleiter Wilhelm Beyer und neun Assistenzärztinnen – „sie alle haben nach dem Krieg weiter praktiziert“, sagt Wunder. Er verliest ein schockierendes Zitat von Beyer aus dem Jahr 1946, als der sich für seine Taten rechtfertigte: „Was das angebliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit anbelangt, so muss ich das deshalb ablehnen, da ein solches Verbrechen nur gegen Menschen begangen werden kann. Und die Lebewesen, die hier zur Behandlung standen, sind nicht als Menschen zu bezeichnen.“

„Sind wir gefeit vor Irrwegen?“

Als Vertreter der Hamburger Ärzteschaft spricht bei der Denkmal-Einweihung Kammerpräsident Dr. Pedram Emami: Es sei „unfassbar, dass meine Kolleginnen und Kollegen, deren Anliegen eigentlich das Heilen und Helfen sein sollte, sich zu Gehilfen einer grausamen und menschenverachtenden Ideologie haben machen lassen“, sagt er. „Die Eltern gaben ihre Kinder in der Hoffnung auf eine moderne Behandlung in die Hände der Täterinnen und Täter.“

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Schuld zu bekennen, sich der Verantwortung zu stellen, sei der Ärztekammer Hamburg heute „wichtiger denn je“. Zu lange habe die Kammer keinen angemessenen Umgang damit gefunden, erst 1995 habe sein Vorgänger, der damalige Kammerpräsident Frank-Ulrich Montgomery, Geschichtsbewusstsein angemahnt. „Wie wäre es denn heute? Sind wir gefeit vor Irrwegen? Vor Unmenschlichkeit, die sich tarnt?“, fragt Emami.

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