Missbrauchsprozess wühlt Frankreich auf: Plädoyers beginnen
Es geht um zigfachen Missbrauch und ein Opfer, das entschieden kämpft. Der Vergewaltigungsprozess um Gisèle Pelicot in Avignon könnte das Strafrecht ändern. Nun geht er in die finale Phase.
51 Angeklagte, mehr als 350 Seiten Anklage und Missbrauchstaten, die Frankreich erschüttern: Der Prozess um zigfache Vergewaltigung im südfranzösischen Avignon ist ein grausiges Mammutverfahren, das von Machtmissbrauch und Verrat, aber auch von Mut und dem Kampf für eine gerechtere Gesellschaft erzählt. Mit dem Beginn der Plädoyers geht das Verfahren diese Woche in seine Endphase. Den Auftakt macht heute die Nebenklage rund um Vergewaltigungsopfer Gisèle Pelicot.
Knapp zehn Jahre lang soll der Hauptangeklagte, Pelicots damaliger Ehemann, seine Frau mit Medikamenten betäubt und missbraucht haben. Auch habe er sie von fremden Männern vergewaltigen lassen, während sie bewusstlos war. Hunderte Fotos und Videos zeugen von den Taten. Die Männer, die zur Tatzeit zwischen 21 und 68 Jahre alt waren, lernte der damalige Ehemann über eine Online-Plattform kennen. 50 von ihnen stehen mit ihm vor Gericht. Chefermittlerin Gwenola Journot geht von weiteren zehn bis 20 Tätern aus, die die Justiz nicht identifizieren konnte.
Massive Unterstützung für Gisèle Pelicot
Schon seit Beginn des Verfahrens Anfang September wühlt der schaurige Prozess Frankreich auf. Immer wieder demonstrierten Menschen, um ihre Unterstützung für Madame Pelicot zu zeigen. Rund um das Gericht in Avignon ist der Beistand allgegenwärtig. Auf Plakaten wird die Höchststrafe von 20 Jahren Haft für die Angeklagten gefordert. Zitate des Missbrauchsopfers sind an Häuserfassaden zu lesen.
Pelicot wird als Kämpferin, als Sonne, als Emblem bezeichnet. Mit ihrem offenen Umgang, ihrer Unverblümtheit und ihrem entschiedenen Auftreten ist sie in Frankreich längst zur feministischen Ikone geworden. Die Anfang-Siebzigjährige betont: „Es ist nicht Mut, sondern der Wille und die Entschlossenheit, diese Gesellschaft voranzubringen.“
„Nicht wir sollten uns schämen, sondern sie“
An einem grauen Prozesstag im November stehen Dutzende Menschen frühmorgens Schlange, um das Verfahren im Übertragungssaal mitzuverfolgen und Pelicot zu unterstützen. Nach der Verhandlung wird Gisèle, wie viele sie nennen, mit langem Applaus empfangen. Zwei Frauen überreichen ihr Blumensträuße.
Eine von ihnen ist Leslie. „Ich wollte ihr meine Dankbarkeit ausdrücken“, erzählt sie. „Es hilft sehr, dass das nicht hinter verschlossenen Türen stattfindet.“ Die 36 Jahre alte Mutter aus dem Großraum Paris ist bereits zum zweiten Mal die mehr als 600 Kilometer gen Süden gereist, um dem Verfahren beizuwohnen. Leslie, die selbst sexuelle Gewalt erlitten hat, sagt, es sei für sie hilfreich zu sehen, wie so ein Prozess ablaufe und wie die Angeklagten sich verhielten.
Pelicot hatte genau deshalb entschieden, den Prozess öffentlich führen zu lassen. Sie will anderen missbrauchten Frauen Mut machen. „Ich will, dass sie keine Schande mehr verspüren. Nicht wir sollten uns schämen, sondern sie.“
Angeklagte geben sich unwissend
Bei einigen Angeklagten ist tatsächlich Scham zu spüren, doch ihre Aussagen wirken dennoch teils wie Ausflüchte. Ein Mann sagt aus, nur zum Vergnügen des Ehemannes vorgetäuscht zu haben, dessen bewusstlose Frau zu penetrieren. Ein anderer meint, er habe Angst vor dem Mann gehabt, den er ja gar nicht kannte. Beide versichern, sie hätten nie zu einem Treffen eingewilligt, hätten sie gewusst, was wirklich ablief. Auch erzählen sie, dass sie eigentlich hätten gehen wollen. Warum sie es nicht taten? Eine überzeugende Antwort liefern die zwei Männer nicht.
Einer von ihnen bittet Madame Pelicot mit gesenktem Kopf um Entschuldigung. Die wendet sich ab, wirkt genervt, und entgegnet: „Zu spät, das ist zu spät.“ Dass die Männer das laute Schnarchen der mit Beruhigungsmitteln betäubten und schlafenden Frau gehört haben müssen, scheint offensichtlich. Dennoch wollen die zwei befragten Angeklagten an diesem Novembertag nicht verstanden haben, dass die Frau tatsächlich bewusstlos war. Sie behaupten, es für ein Spiel gehalten zu haben.
Von „Barbarei“ und „Horrorszenen“ erzählt hingegen Frau Pelicot vor Gericht und spricht mit Blick auf ausflüchtige Aussagen der Angeklagten von einem „Prozess der Feigheit“. Pelicot, die davon ausgeht, etwa 200 Vergewaltigungen erlitten zu haben, meint, die Polizisten, die den Computer ihres Mannes untersuchten, hätten ihr das Leben gerettet.
Der Rentner war im September 2020 wegen Filmaufnahmen unter die Röcke von Supermarktkundinnen festgenommen worden. Erst dadurch kam der jahrelange schwere Missbrauch seiner Frau ans Licht. Sie selbst hatte die Taten wegen der starken Medikamente, die ihr Mann ihr verabreichte, nicht mitbekommen.
Prozess könnte Gesetzeslage verändern
Die Ermittlungen brachten noch mehr zutage. Vier bis fünf weitere mutmaßliche Täter, die sich nach dem gleichen Schema an ihren Frauen vergingen, meldeten die Ermittler den zuständigen Staatsanwaltschaften.
Auch Nacktbilder der Tochter und der Schwiegertöchter, die laut den Ermittlern ohne deren Wissen aufgenommen worden waren, befanden sich auf dem Computer des Hauptangeklagten. Und während dieser den Missbrauch an seiner Frau vollständig gesteht, streitet er ab, sich an seiner Tochter vergangen zu haben.
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Der Fall hat zudem die Debatte um „Ja heißt Ja“ wieder aufflammen lassen. Aktivistinnen und Aktivisten fordern seit Langem, dass in sexuelle Handlungen ausdrücklich eingewilligt werden müsse und dass dies im Strafrecht festgeschrieben werden solle. Dann könnten mutmaßliche Täter sich vor Gericht nicht damit herausreden, von der fehlenden Einwilligung nicht gewusst zu haben. Die französische Nationalversammlung beschäftigt sich derzeit mit einem entsprechenden Vorschlag zur Gesetzesänderung mit Blick auf die Definition sexueller Gewalt.
Vor Madame Pelicot liegt noch ein langer Weg. „51 Menschen haben mich beschmutzt. Damit muss ich mein ganzes Leben lang leben“, sagte sie in ihren letzten Worten vor Gericht. Doch sie fügte hinzu: Beim Namen Pelicot werde man sich vor allem an sie erinnern. (dpa)