Merlin Polzin und Tim Walter geben an der Seitenlinie Anweisungen
  • Merlin Polzin (l.) war zweieinhalb Jahre lang Co-Trainer unter Tim Walter.
  • Foto: WITTERS

Walter oder Baumgart: Riskante Aufgabe für Polzin – Änderungen deuten sich an

Einige der Worte, die Stefan Kuntz am Sonntag nach der Entlassung von Steffen Baumgart wählte, ähnelten denen, die sein Vorgänger Jonas Boldt gut neun Monate vorher ausgesprochen hatte. Der Ex-Boss hatte Merlin Polzin im Februar, nach der Freistellung von Ex-Coach Tim Walter, das „absolute Vertrauen“ geschenkt – und der jetzige Sportvorstand tat nun dasselbe. Polzin ist wieder Chef beim HSV. Dass er es beim ersten Mal nur für ein Spiel war, hatte Gründe. Und beim zweiten Mal? Die Lage für Polzin wirkt riskant. Ebenfalls aus Gründen.

Polzin ist ein loyaler Coach, der den HSV seit der Jugend in seinem Herzen trägt. Nach dem Aus von Daniel Thioune, der Polzin 2020 vom VfL Osnabrück mit nach Hamburg gebracht hatte, überzeugte der gebürtige Hamburger den im Sommer 2021 geholten Neu-Chefcoach Walter trotz anfänglicher Zweifel mit seiner Akribie und Leidenschaft auf dem Trainingsplatz. Polzin galt in Walters Trainerteam als Lautsprecher, aber auch als Analytiker und Taktik-Experte.

Als Polzin einmal HSV-Chef war, war viel Walter zu sehen

Es verwunderte wenig, dass Polzin nach Walters Freistellung, bei seinem bislang einzigen Auftritt als Chef an der Seitenlinie, von der Spielausrichtung her wenig veränderte. Nach dem 2:2 bei Hansa Rostock am 17. Februar dieses Jahres erkannte aber nicht nur Robert Glatzel: „Ein Fortschritt war dieses Spiel leider nicht.“ Auch Boldt wusste nach dem Auftritt an der Ostsee: Die Art, mit der Polzin den HSV beim FC Hansa im offensiven 4-3-3 spielen ließ, ähnelte zu stark dem zu wild gewordenen und defensiv-anfälligen Walter-Fußball. Deshalb verpflichtete Boldt wenige Tage später Baumgart und schickte Polzin trotz des öffentlichen Vertrauensvorschusses zurück ins zweite Trainer-Glied.

Pünktlich zum Wochenende erhalten Sie von uns alle aktuellen News der Woche rund um den HSV kurz zusammengefasst – direkt per Mail in Ihr Postfach.

Mit meiner Anmeldung stimme ich der Werbevereinbarung zu.

In Baumgarts Team hatte Polzin fortan eine andere Rolle. René Wagner, mit dem Baumgart zuvor beim 1. FC Köln zusammengearbeitet hatte, wurde (neben dem Chef selbst) zum neuen Lautsprecher im Training. Polzin wiederum übernahm vor allem den Job des Standard-Experten – und das mit einer Akribie, die den HSV in dieser Saison nach Ecken endlich torgefährlich macht. Von dieser Stärke profitierte auch Baumgart. Nun stellt sich aber die Frage: Wie wird Polzin den HSV – in Zusammenarbeit mit Assistent Loic Favé – aufs Spiel in Karlsruhe am Sonntag vorbereiten?

HSV trainiert mit Viererkette und zwei offensiven Flügeln

Wie bei der Reise nach Rostock im Februar ist auch diesmal kein revolutionärer fußballerischer Ansatz zu erwarten. Polzin könnte an einigen in den vergangenen Monaten etablierten Grundprinzipien festhalten, um die Mannschaft in der aktuellen Krise nicht zu überfordern. Darauf aufbauend könnte der Interimschef aber Maßnahmen entwickeln, um das zuletzt schleppende HSV-Offensivspiel wieder zu beleben. Ob er es dabei bei einem System mit Abwehr-Dreierkette, mit Schienenspielern auf den Außen und zwei zentralen Stürmern belässt, ist grundsätzlich offen.

Aber: Im Training am Mittwochvormittag ließ Polzin die beiden Trainingsteams jeweils in einer 4-3-3-Formation gegeneinander antreten. Eine der Abwehr-Viererketten bestand aus den beiden Innenverteidigern Sebastian Schonlau und Dennis Hadzikadunic sowie aus den Außenverteidigern Miro Muheim (links) und Silvan Hefti (rechts), wobei Letzterer die Einheit wegen Oberschenkelproblemen vorsichtshalber frühzeitig beendete. Auf den beiden Flügelpositionen der vermeintlichen A-Mannschaft spielten – wie zu früheren Zeiten – Bakery Jatta und Jean-Luc Dompé. Waren das klare Indizien dafür, dass Polzin eine andere Systematik anstrebt als der entlassene Baumgart?

HSV-Interimstrainer Merlin Polzin vor kniffliger Challenge

Polzin, das darf nicht vergessen werden, war bis zuletzt Teil eines Trainerteams, das keine Lösungen mehr für die immer wieder selben Probleme fand. Diese Ausgangslage wirkt riskant – auch wenn der 34-Jährige das Vertrauen verdient, das Vorstand Stefan Kuntz parallel zur Suche nach einem neuen Cheftrainer in ihn setzt. Polzin könnte sich auf einzelne Elemente des Walter-Fußballs zurückbesinnen, den er zweieinhalb Jahre lang mit weiterentwickelt hat. Oder aber er orientiert sich im ersten Schritt an Baumgarts Grundsätzen und nimmt nur vereinzelt Anpassungen vor.

Das könnte Sie auch interessieren: Duo verbannt, noch ein HSV-Coach raus: So lief das erste Training unter Polzin

Allein: Was passieren kann, wenn mit Polzin an der Seitenlinie noch zu sehr der Spielstil eines Ex-Cheftrainers zu erkennen ist, zeigte sich im Februar in Rostock. Polzin gab sich damals selbstkritisch, zeigte sich dankbar für die Chance und wurde ohne Murren wieder zum Assistenten. Jetzt steht er zum zweiten Mal in seiner noch jungen Laufbahn vor einer kniffligen Challenge. Die von Walter, Baumgart oder ganz andere: Welche Elemente wird er den Profis in dieser Woche mit an die Hand geben? Entscheidet er sich für die richtigen und hat Kuntz währenddessen noch keinen neuen Coach gefunden, ist es zumindest denkbar, dass Polzin noch etwas länger der Chef bleiben wird.

Email
Share on facebook
Share on twitter
Share on whatsapp