Frau Dr. Schmiedel, leben wir in einer Cancel Culture?
Viele Menschen haben das Gefühl, dass man heute „nichts mehr sagen darf“, dass man ständig „gecancelt“ wird (engl. = zensiert). „Darf man das heute überhaupt noch sagen?“, fragen Leute heute öfter als früher, aus Angst, einen Anraunzer im Freundeskreis oder einen Shitstorm auf Facebook zu ernten. In den Netzwerken kann es wirklich böse zugehen, wenn sich jemand „danebenbenimmt“: Es fühlt sich für niemanden gut an, wenn man nichts Böses im Sinn hat und wegen eines „falschen“ Wortes behandelt wird, als hätte man ein Verbrechen begangen oder wäre Voldemort persönlich. Muss das immer so hart sein?
Witzigerweise sind wir uns im Feminismus ja nicht mal stets einig, was man sagen darf und was nicht. Bei Pinkstinks bekamen wir vor Kurzem massenhaft Beschwerden, weil in Hamburg viele Plakate für die RTL-Castingshow „Milf oder Missy“ aushingen. „Milf, ein Begriff aus der Pornoszene, bedeutet eigentlich „die Mutter, die ich gerne vögeln würde“. „So eine Frechheit!“, schimpften ältere Feministinnen ob dieser Sexualisierung von Frauen – dabei trägt meine 45-jährige Kollegin bei Pinkstinks eine sehr schöne, goldene Halskette mit „MILF“-Anhänger, und eine bekannte deutsche Feministin (Jasmina Kuhnke) nennt sich „Quattromilf“ auf Twitter, weil sie vier Kinder hat. „Ja genau, ich bin noch mit 70 Jahren sexy, ätsch!“ – lautet diese Art von Gegenwehr.
Neue Kolumne von Stevie Schmiedel in der MOPO
Aber es gibt viele Worte, die wir tatsächlich nicht mehr hören wollen, da sind wir uns einig. Angefangen bei „Fräulein“ bis dahin, als Käuferin einer Wohnung vom Notar nicht stoisch als „Käufer“ angesprochen zu werden. Im Feminismus solidarisieren wir uns auch mit Menschen, die Rassismus erfahren, und können sehr laut und wütend werden, wenn wir das Z-Wort oder N-Wort hören, veraltete, abwertende Begriffe für Sinti und Roma und Schwarze Menschen („schwarz“ hier bitte immer großschreiben, weil es ein politischer Begriff ist und keine tatsächliche Hautfarbe!). „Mann, ist das kompliziert“, könnte man da aufstöhnen – aber ist es das wirklich?
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Es ist tatsächlich so, dass die Welt komplexer geworden ist: Mehr Menschen dürfen mitreden. Schon alleine, weil ein Fernsehmoderator heute sehr schnell von sehr vielen Menschen auf Twitter erfährt, ob er etwas „Falsches“ gesagt hat: In Zeiten vor Social Media konnte man seine Wut darüber höchstens abends in der Kneipe bündeln, heute können wir mit einem Tweet Tausende mobilisieren. „Macht“ haben wir deshalb noch lange nicht, keine Angst. Wir reden nur mit. Denn nach wie vor benutzen nur wenige Fernsehmenschen oder Zeitungen Gendersprache, die wir gerne überall hören oder lesen würden. Aber gerade weil die Mehrheitskultur nicht gendert oder ihr nicht bewusst ist, dass manche Worte Menschen sehr wehtun können, müssen wir manchmal sehr laut sein – und das kann als aggressiv und diktatorisch wahrgenommen werden. Canceln, also den Mund verbieten, tut es aber nicht. Wir sind jetzt nur im (Streit-)Gespräch miteinander.
Mit Freundlichkeit erreicht man mehr als mit Wut
Richtig ist aber auch: In einem freundlichen Gespräch unter zwei Parteien erreicht man oft mehr als mit wütenden Appellen. Wenn wir die Möglichkeit dazu haben, sollten wir sie also dringend nutzen. Als mir das erste Mal klar wurde, dass das Z-Wort gerade im Nationalsozialismus als „herumstreunender Gauner“ übersetzt wurde, fiel mir die Kinnlade herunter: Jemand hatte es mir ganz ruhig erklärt, anstatt mich anzubellen. Es machte sofort Sinn, dieses Wort zu unterlassen. Ich musste nicht, verletzt und erschrocken, auf die Hinterbeine gehen und sagen: „Ich sag’, was ich will, du blöde Gans!“
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Es lässt sich nur so schwer besonnen argumentieren, wenn man weniger mächtig ist als die Gegenseite. Mein Tipp: Einmal laut werden und auf sich aufmerksam machen, dann freundlich erklären. Das heißt aber auch, seine Wut schnell loszulassen, das ist nicht einfach. Aber Mensch kann es trainieren, wenn er*sie weiß: Das ist viel produktiver!
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