Gefährlicher Februar: St. Paulis Parallelen zu 2011 – und was jetzt ganz anders ist
Es gibt Menschen, die haben dem FC St. Pauli schon nach drei Spieltagen die Qualität für die Bundesliga abgesprochen und als Absteiger eingestuft. Und es gibt jene, die meinen, der Kiezklub habe nach 21 Spieltagen den Klassenerhalt schon so gut wie in der Tasche. Kurios ist, dass es vermeintliche Experten gibt, die im Laufe der Saison sowohl das eine als auch das andere verkündet haben. Beide Urteile – verfrüht. Was den Klassenverbleib des Aufsteigers angeht: Die Kiezkicker sind zweifellos auf einem guten Weg, aber noch lange nicht am Ziel. Der Blick zurück in die eigene Vergangenheit sollte Warnung sein.
Bei einer Umfrage vor dem Saisonstart hätte wohl jeder Spieler, jede und jeder Verantwortliche und auch Fan des Kiezklubs mit Kusshand genommen und sofort unterschrieben, was nach knapp zwei Dritteln der Saison die Bilanz des Aufsteigers in Liga eins ausweist: 21 Punkte, Platz 14, sieben Zähler Vorsprung vor dem Relegationsplatz, dazu ein besseres Torverhältnis als die Konkurrenz im Keller, was quasi einen weiteren Plus-Punkt bedeutet.
FC St. Pauli: Gute Zwischenbilanz im Klassenkampf
Der Aufsteiger ist mehr als im Soll und hat sich im Kampf um den Klassenerhalt, der für die Entwicklung des Vereins ein Meilenstein wäre, eine gute Ausgangsposition erarbeitet. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Die letzte Erstliga-Spielzeit der Braun-Weißen zeigt wie schnell, unvorhergesehen und dramatisch es in eine andere Richtung gehen kann.
Der Vergleich mit der Saison 2010/11 weist einige interessante Parallelen auf. Damals rangierte St. Pauli nach 21 Spieltagen auf Tabellenplatz zwölf, hatte 25 Punkte auf dem Konto. Sieben Siege, vier Remis, zehn Niederlagen. Die aktuelle Bilanz ist mit sechs Siegen, drei Unentschieden und zwölf Niederlagen ähnlich. Gleiches gilt für die Tordifferenz von aktuell minus Sechs (18:24) und vor 14 Jahren minus Zehn (24:34).
Vor 14 Jahren stand St. Pauli nach 21 Spielen ähnlich gut da
Erstaunlich ist auch, dass die Kiezkicker in beiden Erstliga-Saisons hervorragend in die Rückrunde gestartet waren. Die damalige Mannschaft mit Max Kruse und Gerald Asamoah sammelte an den Spieltagen 18 bis 21 starke acht Punkte, das heutige Team um Kapitän Jackson Irvine in der gleichen Spanne sieben Zähler. Absolutes Formhoch.
Feiner Unterschied: Während Boll & Co. am nachgeholten 21. Spieltag am 16. Februar 2011 einen legendären 1:0-Derbysieg im Volkspark feierten, kassierten die heutigen „Boys in Brown“ am 21. Spieltag eine ganz und gar unlegendäre 0:2-Niederlage in Leipzig.
Derby-Sieg beim HSV 2011 war der letzte der Saison
Unvergessen, wenngleich (aus Gründen) verdrängt: Der Derby-Triumph war der letzte Sieg in der Spielzeit – nur noch mickrige und mitleiderregende (Ausnahme: alle HSV-Fans) vier Pünktchen holte die von Holger Stanislawski trainierte Mannschaft in den folgenden 13 Spielen und stieg am Saisonende als abgeschlagener Tabellenletzter ab. Brutales Ende eines einjährigen Ausfluges ins Oberhaus, der lange Zeit sehr vielversprechend verlaufen war.
Damals wie heute gab es personelle Hiobsbotschaften: Im ersten Spiel nach dem Derbysieg erlitt Bastian Oczipka einen Knöchelbruch, kurz darauf wurde bei Kapitän Fabio Morena ein Ermüdungsbruch im Fuß diagnostiziert und dann erlitt auch noch Top-Verteidiger Carlos Zambrano einen Sehnenabriss. Alles im Februar. Die Verletzungen bedeuteten jeweils das Saisonaus. Weitere Spieler waren zu diesem Zeitpunkt verletzt oder angeschlagen ausgefallen.
Damals wie heute gab es im Februar bittere Ausfälle
Das aktuelle Team hat es nicht ganz so heftig erwischt, aber die noch frischen Ausfälle von Toptorjäger Morgan Guilavogui und Rechtsverteidiger Manos Saliakas, die einige Wochen fehlen werden, wiegen schwer. Nicht zu vergessen, dass Innenverteidiger Karol Mets weiterhin nicht einsatzfähig und unklar ist, wann das wieder der Fall sein wird, ist ebenfalls ein Problem.
Eine Verletzungsmisere in Kombination mit einer Niederlagenserie kann zu einer gefährlichen Abwärtsspirale führen – das war 2011 zweifellos der Fall, insbesondere dann, wenn man sich nach einem epischen Sieg wie jenem beim HSV auf Wolke sieben wähnt. Anders als damals gibt es jetzt keinen Derby-Rausch, der vielleicht zu lange gefeiert und ausgekostet werden könnte.
St. Pauli 2024/25 ist defensiv stabiler und gefestigter
Ein weiterer wichtiger Unterschied zu 2011: Die aktuelle Mannschaft muss nicht derart viele Ausfälle und schwere Verletzungen verkraften wie das damalige Team. Der aktuelle Kader verfügt zudem über mehr qualitative Tiefe, wodurch besser auf personelle Probleme reagiert werden kann.
Anders als vor 14 Jahren ist die jetzige Bundesliga-Mannschaft defensiv stabiler, weist mit aktuell 24 Gegentoren (zum Vergleichszeitpunkt 2011 waren es 34) die zweitbeste Defensive der Liga auf, die hervorragend funktioniert und schon siebenmal zu Null gespielt hat, was auch an Keeper Nikola Vasilj liegt. Das gelang in der gesamten Saison 2010/11 nur vier Mal und mit Thomas Kessler (25 Einsätze), Benedikt Pliquet (5) und Mathias Hain (4) gab es drei verschiedene Torhüter, die eingesetzt wurden, was dokumentiert, dass es nie eine unumstrittene Nummer eins gab. Die aktuelle Mannschaft wirkt gefestigter und homogener.
Stanislawski-Team kassierte 34 Tore in 13 Spielen
Stanislawskis Mannen erzielten in den 13 Spielen bis Saisonende nur noch elf Tore, kassierten aber satte 34 Buden, allein gegen den FC Bayern acht Stück. Nichts deutet daraufhin, dass Abwehrchef Eric Smith und Co. so krass einbrechen könnten.
Der größte Unterschied von heute zu einst – und der am Saisonende womöglich entscheidende – ist aber die Konkurrenzsituation im Keller. 2011 ganz unten: Borussia Mönchengladbach (16 Punkte nach 21 Spielen) auf Rang 18, der VfB Stuttgart war Vorletzter (19 Punkte) und auf dem Relegationsrang lag der 1. FC Köln (22 Punkte) – und damit Mannschaften, die vor Saisonbeginn nicht zu den größten Abstiegskandidaten gezählt worden waren.
Die Konkurrenz mit Bochum und Kiel ist schwächer
Diesmal stehen Mannschaften unten, die auch im unteren Tabellendrittel erwartet worden waren und von Anfang an als größte Konkurrenten der Hamburger im Keller-Kampf galten. Aktueller Tabellenletzter ist der VfL Bochum (11 Punkte), Vorletzter ist Mit-Aufsteiger Holstein Kiel (13) und auf dem Relegationsplatz stehen die Heidenheimer (14 Punkte), die in der Vorsaison überperformt und vor dieser Spielzeit ihre Topspieler Tim Kleindienst und Niklas Beste verloren hatten. Alle drei Mannschaften haben deutlich weniger Punkte als die drei Letztplatzierten vor 14 Jahren. Anders gesagt: die Konkurrenz ist schwächer.
Anders als 2011 ist das derzeitige Polster der Kiezkicker auf die Abstiegszone, die mit dem Relegationsplatz beginnt, erfreulich dick, während der FC St. Pauli des Jahres 2011 nach 21 Spieltagen zwar in der Tabelle zwei Plätze höher positioniert war als die jetzige Mannschaft, aber gerade mal drei Punkte Vorsprung auf Rang 16 hatte.
St. Pauli hat größeren Vorsprung auf die Abstiegszone
Bemerkenswert damals: Die drei Mannschaften, die nach 21 Spielen ganz unten gestanden hatten, legten allesamt einen bemerkenswerten Endspurt hin und holten in den 13 Partien jeweils mehr als 20 Punkte. Köln kletterte mit 44 Punkten sogar auf Rang zehn der Endabrechnung, Stuttgart (42) auf Platz zwölf der Abschlusstabelle und Gladbach rettete sich mit 36 Zählern noch auf den Relegationsrang, während neben St. Pauli auch Frankfurt den Gang in die Zweite Liga antreten musste. Die Eintracht hatte nach dem 21. Spieltag übrigens vermeintlich ungefährdet auf Rang zehn gelegen.
Das zeigt: Kein Team der unteren Tabellenhälfte ist zu diesem Zeitpunkt sicher. Es gibt keine Garantien und Hochrechnungen schließen nie Verletzungen, Sperren und die besonderen Dynamiken ein, die sich entwickeln können.
Gute Basis für den Klassenerhalt – aber keinerlei Garantien
Es ist davon auszugehen, dass die sportliche Leitung des FC St. Pauli der Mannschaft nach jedem Erfolg einschärft, dass vielleicht ein Spiel, aber ansonsten noch gar nichts gewonnen ist. Die Mentalität des aktuellen Teams, das auch nach Erfolgen stets auf dem Boden geblieben und nie in Euphorie verfallen ist, sowie die Einstellung der Führungsspieler schließt Selbstzufriedenheit oder Sorglosigkeit nahezu aus. Und: Anders als die Braun-Weißen vor 14 Jahren standen Irvine & Co. schon im Keller, haben eine sehr schwierige Phase zu Saisonbeginn bereits bewältigt, Erfahrungen gesammelt und Resilienz nachgewiesen.
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Das ist eine gute Voraussetzung für einen erfolgreichen weiteren Weg und Endspurt, was auch für den Punkte- und Tabellenstand gilt. Es gibt schlechtere Szenarien. Sicher ist nur, dass dieser Weg lang und hart wird.
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