Alexander Blessin vor dem Spiel gegen Leverkusen

St. Pauli-Trainer Alexander Blessin muss an jedem Wochenende Entscheidungen treffen, die ihm „wehtun“. Foto: WITTERS

„Da hasse ich meinen Job“: Blessin über die „beschissensten“ Momente

Die Freude und Zufriedenheit über das verdiente Remis gegen Meister Bayer Leverkusen und den wertvollen Punkt im Kampf um den Klassenerhalt war groß beim FC St. Pauli. Jubelstimmung im Stadion, gute Laune im Team. Platz 14, 30 Punkte, acht Zähler Vorsprung auf den Relegationsplatz. Es sieht verdammt gut aus für die Kiezkicker, auch wenn sie noch nicht ganz durch sind. Trainer Alexander Blessin ist stolz auf sein Team, wirkte nach dem Remis gelöst. Doch bei einem Thema wird der Coach sehr ernst.

Kontinuität ist im Profifußball in der Regel etwas Positives und Erstrebenswertes. Dumm nur, wenn das, was sich wie ein roter Faden durch eine Saison zieht, die Ausfälle von Leistungsträgern sind. Der FC St. Pauli kann in seiner ersten Bundesliga-Spielzeit nach dem Aufstieg ein (Klage-)Lied davon singen. Aber sie Jammern nicht – aus Prinzip. Sondern machen regelmäßig aus der Not eine Tugend.

Größte Stärke: St. Paulis fängt auch Irvine-Ausfall auf

Im Ausfälle-kompensieren sind die Kiezkicker wahre Meister. Es ist die größte Stärke des Aufsteigers. Resilienz. Und Anpassungsfähigkeit. Das hat die Mannschaft nach dem Ausfall von Kapitän Jackson Irvine (Stressreaktion im linken Fuß, Comeback-Zeitpunkt ungewiss) einmal mehr bewiesen, und das eindrucksvoll. Manch anderem Aufsteiger in den vergangenen Jahren hätte die Serie von zum Teil monatelangen Ausfällen von wichtigen Spielern im Laufe einer Saison – beispielhaft seien Karol Mets, Elias Saad, Morgan Guilavogui und nun Irvine genannt – das Genick gebrochen.

St. Pauli, so wirkt es, wächst mit dem Widerstand. Verluste setzen Kräfte frei, weil das Kollektiv den Ausfall Einzelner mit Einsatzbereitschaft und Intensität am Anschlag zu kompensieren versucht und dabei bedingungslos zu Werke geht. Gemeinschaftlich. Alle für einen. Klingt pathetisch, ist bei den „Boys in Brown“ aber Prinzip, mehrfach erfolgreich durchgezogen. Vereinfacht gesagt: Wer neu reinkommt, liefert in der Regel mindestens solide und oftmals sogar gut ab und die anderen geben noch ein paar Prozentpunkte mehr.

Alexander Blessin lobt den besonderen Teamgeist

Blessin will sich diese gewachsene Kultur im Team nicht ans eigene Revers heften. „Da habe ich schon eine gute Mannschaft vorgefunden, das muss man schon ehrlich sagen.“ Bereits unter Vorgänger Fabian Hürzeler hatte ein besonderer Teamspirit geherrscht. „Trotzdem haben wir daran weitergearbeitet. Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir diese Saison nur über die mannschaftliche Geschlossenheit hinbekommen. Keiner steht über dem Team. Keiner.“ Auch Mittelfeld-Stratege Eric Smith hatte unlängst im MOPO-Interview betont, dass es in puncto Teamgeist kein anderer Bundesligist mit St. Pauli aufnehmen könne.

„Der unbändige Wille“ zeichne seine Mannschaft aus, lobte Blessin nach dem Leverkusen-Spiel, bei dem die Gastgeber in der dritten Partie hintereinander aus einem Rückstand noch etwas Zählbares gemacht hatten, was ihnen zuvor in der Saison kein einziges Mal gelungen war. „Ich sehe ja jeden Tag im Training, dass die Jungs immer wollen.“ Alle wollen, alle hauen sich rein, bieten sich an, drängen sich auf – aber längst nicht alle können dafür belohnt werden. Gleichzeitig sei es aber wichtig, „dass jeder wirklich das Gefühl hat, Teil der Mannschaft zu sein. Das sagt sich so leicht“. Ist aber Überzeugungsarbeit, bei der Kommunikation wichtig ist.

„Das ist der beschissenste Job in dem Moment“

Die Schwierigkeit, wie Blessin sie beschreibt: „Es ist eine Gruppe von 25. Du hast dann elf glückliche Spieler und 14, die weniger glücklich sind – von denen dann neun, die halb-glücklich sind, weil sie auf der Bank sitzen und dann nochmal welche, die gar nicht auf der Bank sind.“ Insbesondere Spieler aus dem Kader zu streichen, falle ihm schwer. „Das tut mir auch weh als Trainer. Das ist der beschissenste Job in dem Moment, da hasse ich meinen Job manchmal, weil ich genau weiß, wie weh das tut.“ Die Qual der Wahl hat, wem viel Qualität zur Auswahl steht.

Ausfälle ausgiebig zu beklagen und zu lamentieren hieße zudem, die falschen Signale zu setzen – vor allem nach innen. Zum einen darf man dem Kollektiv nicht den Glauben nehmen, es auch ohne Leistungsträger XY schaffen zu können. Zum anderen gilt es, den oder die jeweiligen Ersatzkandidaten das Vertrauen zu schenken und sie starkzureden. „Wenn du das nicht vorlebst, wie sollen dann die Spieler, die in dieses Korsett auf einmal reinkommen, das Gefühl haben: ‚Der Trainer der glaubt an mich‘?“ Denn: „Das ist, was sie brauchen.“

Reservisten stärken: Wie die Leader dem Trainer helfen

Bei St. Pauli übernehmen jedoch auch die erfahrenen Führungsspieler wie Irvine, Smith oder Hauke Wahl diese Aufgabe, verbale Rückendeckung und Sicherheit sowie Wertschätzung zu geben, das Selbstvertrauen jener zu stärken, die lange nicht gespielt haben, aber plötzlich (wieder) gebraucht werden – wie Carlo Boukhalfa gegen Leverkusen, der prompt auch noch den umjubelten Ausgleichstreffer erzielte, ein Beweis des Phänomens, geradezu pointenhaft. „Letzten Endes machen es die Jungs und regeln das“, sagt Blessin. „Und ich muss immer blöde Entscheidungen treffen.“ Besser: harte Entscheidungen, in dem Moment blöd für die Härtefälle.

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