Heldenmut und Todesverachtung: Vor 100 Jahren wurde Hans Leipelt geboren
In Wilhelmsburg ist die Leipeltstraße nach ihm benannt und in der Hamburger Universität erinnert ein Gedenkstein an ihn. Dennoch: Die allermeisten Hamburger dürften mit dem Namen Hans Leipelt nichts anzufangen wissen. Dabei wäre es mehr als wünschenswert, jedem Schüler würde im Geschichtsunterricht Leipelts Lebensgeschichte erzählt. Denn er war mutig und unbeugsam – und das zu einer Zeit, als Mut und Unbeugsamkeit Lebensgefahr bedeuteten.
100 Jahre alt wäre Hans Leipelt an diesem Sonntag geworden. Tatsächlich aber hat er nicht einmal seinen 24. Geburtstag erleben dürfen. Am 29. Januar 1945 ließ Diktator Adolf Hitler ihn, den wohl wichtigsten Vertreter des Hamburger Zweigs der „Weißen Rose“, in München-Stadelheim enthaupten.
„Weiße-Rose“-Mitglied Hans Leipelt: „Ich sterbe ohne Angst“
„Heute findet meine Hinrichtung statt“, so schrieb Leipelt in seinem Abschiedsbrief an seine Schwester. „Sei meinetwegen nicht traurig. Ich fühle im wahrsten Sinne göttliche Ruhe in mir und sterbe ohne Angst, in der Hoffnung auf Gottes Vergebung. Auch Dich bitte ich nun zum Schluss, Du möchtest mir meine häufige Lieblosigkeit, meinen Egoismus, vor allem meinen maßlosen Mangel an Selbstbeherrschung vergeben, durch den ich auch Dich ins Unglück gestürzt habe. Lebe wohl, mein Liebes. Dein Dich liebender Bruder Hans.“
Geboren wird Leipelt am 28. Juli 1921 in Wien. Er ist noch ein Kleinkind, da zieht die Familie nach Hamburg: Sein Vater, der Diplomingenieur Konrad Leipelt, tritt eine leitende Stelle bei der Norddeutschen Affinerie auf der Veddel an. Später wird er Direktor der Zinnwerke Wilhelmsburg.
Ab 1935 greifen die Nürnberger Rassengesetze tief in das Leben der Familie ein. Obwohl protestantisch erzogen, gilt Mutter Katharina Leipelt in den Augen der Nazis als „Volljüdin“. Ihr einziger Schutz vor frühzeitiger Deportation: die „Mischehe“ mit ihrem „arischen“ Mann.
Hans Leipelt: Erst Eisernes Kreuz, dann unehrenhaft entlassen
Hans Leipelt, der wie seine Schwester in den Augen der Nazis ein Halbjude ist, nimmt ab 1939 am Polen- und am Frankreichfeldzug teil, wird für seine Verdienste 1940 sogar mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet – was die Nazis allerdings nicht daran hindert, ihn kurz darauf unehrenhaft aus der Armee zu entlassen. Einzig und allein, weil er Jude ist.
Hans Leipelt beginnt in Hamburg ein Chemiestudium, wird aber schon nach drei Semestern wegen seiner „nichtarischen“ Herkunft exmatrikuliert. Er geht nach München und hat Glück: Sein Professor ist Heinrich Wieland, der als Nobelpreisträger eine so große Reputation genießt, dass er es sich leisten kann, die Regeln der Nazis zu missachten und Menschen wie Hans Leipelt ein Studium zu ermöglichen.
1942 erlebt die Familie Leipelt einen Sommer, der an Dramatik kaum zu überbieten ist, und der einschneidende Veränderungen mit sich bringt: Es geht damit los, dass Hermine Baron, Hans Leipelts Oma, ins Ghetto Theresienstadt deportiert wird, dem „Vorhof zur Hölle“, wo sie schon nach wenigen Monaten stirbt.
Hans Leipelts Mutter muss Zwangsarbeit verrichten
Als wäre das nicht schlimm genug, erliegt Leipelts Vater im September 1942 während einer Kur in Bad Kissingen einem Herzinfarkt. Das ist eine Katastrophe vor allem für Leipelts Mutter: Für sie enden mit dem Tod ihres Mannes die Ausnahmeregelungen, die für Juden aus Mischehen gelten. Sie muss daraufhin Zwangsarbeit in einer Futtermittelfirma in Harburg leisten.
Aufgewühlt und zutiefst empört kehrt Leipelt nach den Semesterferien an die Uni München zurück. Was er dort im Februar 1943 in seiner Post vorfindet, verändert sein Leben grundlegend: Es handelt sich um eines der Flugblätter der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ – das sechste und letzte. Darin heißt es unter anderem: „Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad. Der Tag der Abrechnung ist gekommen, der Abrechnung unserer deutschen Jugend mit der verabscheuungswürdigsten Tyrannis, die unser Volk je erduldet hat. Im Namen der ganzen deutschen Jugend fordern wir von dem Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut des Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen hat …“
Das sechste und letzte Flugblatt der „Weißen Rose“
Leipelt zeigt das Flugblatt seiner Freundin Marie-Luise Jahn. Auch Jahrzehnte später erinnert die sich an diesen Moment noch ganz genau: „Gemeinsam lasen wir es und waren erstaunt darüber, dass da jemand den Mut gehabt hatte, auszusprechen, was wir auch dachten, aber nie zu schreiben gewagt hätten. Wir waren beeindruckt.“
Ganz spontan entschlossen wir uns: „Wir müssen weitermachen“
Wer hinter diesem Flugblatt steckt, wissen Leipelt und seine Freundin zunächst nicht. Das erfahren sie erst, als die Geschwister Hans und Sophie Scholl am 18. Februar 1943 gefasst und vier Tage später hingerichtet werden. Was damals Leipelt und seiner Freundin durch den Kopf geht, schildert Marie-Luise Jahn später so: „Wer sollte jetzt den Menschen die Augen öffnen? Wer sollte jetzt die Wahrheit sagen über das verbrecherische Regime? Die, die es gewagt hatten, waren nicht mehr am Leben. Was sollten wir tun? Wir wussten es. Ganz spontan entschlossen wir uns: Wir müssen weitermachen. An die Gefahr dachten wir nicht.“
Die beiden fangen an, das Flugblatt mit einer Reiseschreibmaschine wieder und wieder abzuschreiben, wobei sie jedes Blatt mit dem Zusatz versehen: „Und ihr Geist lebt trotzdem weiter!“ Sie verteilen die Kopien an Freunde und Bekannte – und sorgen Ostern 1943 bei einem Besuch in Hamburg dafür, dass es auch in der Hansestadt Verbreitung findet. Direkt vor dem Uni-Hauptgebäude an der Edmund-Siemers-Allee händigt Leipelt einige Exemplare seinem Freund Heinz Kucharski aus, und zwar mit den Worten: „Das ist hochexplosiver Sprengstoff.“
Hans Leipelt plant einen Sprengstoffanschlag auf die Lombardsbrücke
Leipelt geht viele Risiken ein: beispielsweise, indem er im Freundeskreis Geld sammelt für die Familie des Münchner Professors Kurt Huber, der als Mitstreiter der Geschwister Scholl inzwischen ebenfalls verhaftet worden ist (und später hingerichtet wird). Das Geld ist für Hubers Frau, die nicht weiß, wie sie ohne den Ernährer den Lebensunterhalt für sich und die beiden minderjährigen Kinder bestreiten soll.
Leipelt plant Sabotageakte. Zwei Ziele für Sprengstoffanschläge hat er sich auch schon ausgesucht: das Stadthaus in Hamburg, also die Zentrale der Gestapo in der Hansestadt. Und wegen ihrer großen infrastrukturellen Bedeutung die Lombardsbrücke. Einen befreundeten Chemiestudenten bittet er darum, ihm Nitroglycerin zu beschaffen.
Zur Ausführung kommen die Anschläge nicht mehr, denn Leipelt wird denunziert und im Oktober 1943 verhaftet. Auch seine Mutter Katharina und Schwester Maria werden von der Gestapo festgenommen und ins Polizeigefängnis Fuhlsbüttel überstellt. Katharina Leipelt nimmt sich dort am 9. Dezember 1943 in ihrer Zelle das Leben.
Hans Leipelt wird am 29. Januar 1945 in München hingerichtet
Wegen Vorbereitung zum Hochverrat werden Leipelt, Marie-Luise Jahn und sieben weitere Münchner Freunde angeklagt. Der Prozess findet am 13. Oktober 1944 statt. Leipelt wird zum Tode verurteilt und am 29. Januar 1945 hingerichtet – und zwar auf demselben Schafott, auf dem schon die Geschwister Scholl starben.
Marie-Luise Jahn wird zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt, überlebt das NS-Regime und gründet später eine Arztpraxis in Bad Tölz. Bis 2002 ist sie Vorstandsmitglied der Weiße-Rose-Stiftung. Sie stirbt 2010.
Leipelts Schwester Maria wird am 14. April 1945 von US-Truppen aus dem Frauengefängnis Bayreuth befreit. Sie emigriert in die USA, wo sie Biochemie studiert und als Dozentin an der Harvard University und am Massachusetts Institute of Technology lehrt. Sie heiratet den Physiker William Bade und stirbt im September 2008 im Alter von 83 Jahren in Concord (Massachusetts).