Frau Dr. Schmiedel, warum haben wir kein deutsches Wort für „Gender“?
Wenn mir gegenüber jemand das Wort „Gender“ mit deutschem, harten „G“ ausspricht, weiß ich schon: Oje, jetzt wird’s schwierig. Auf das harte „G“ folgt meist eine Tirade aus lustig klingenden Worten wie „Genderisten“, „Gender-Gaga“ oder „Gender-Wahnsinn“. Wobei natürlich auch Gender-Hassende englisch sprechen können und es diese Abfolge auch mit korrekt englischem „Dsch“ gibt: „Dschender-Diktatur!“
Die Zeiten gendern sich also. Diskussionen um „Gender“ sind nicht mehr wegzudenken: Täglich liest man irgendwo von Ampelfrauchen oder Gendersternchen. Aber wieso, wenn wir damit schon medial belästigt werden, gibt es das Wort nicht auf Deutsch? Da kann man ja nur misstrauisch werden. Selbst für das englische „mobile phone“ gibt es ein deutsches Wort: Handy!
„Geschlechterrollenbild“ – Geht das nicht auch einfacher?
Ich will die Sache wirklich ernst nehmen – ich finde es als Deutsch-Britin tatsächlich „typisch deutsch“, dass wir da nichts Eigenes erfinden. Oder wenigstens konsequent sind und Gender in „individuelles Geschlechterrollenbild“ übersetzen. Gut, da fügen sich ein Adjektiv und drei Hauptwörter aneinander, das ist nicht hübsch. Aber in langen, komplizierten Wortgebilden sind wir nun mal Meister in Deutschland. Und wenn schon, denn schon! Wir könnten es auch, wie die bekannte Haselnusstafel (Ha-nu-ta) abkürzen in Ge-ro-bi. Gerobi-Studien. Gerobi-Mainstreaming. Gerobi-Wahnsinn. Wie finden Sie das? Ich finde das ganz schick, vermute nur, dass dann unsere migrantischen Mitbürger*innen die Schuld für alles zugewiesen bekommen, was Gender so mit sich bringt. Weil das nach „Nairobi“ oder Gerudo-Wüste klingt. Das wollen wir ja auch nicht.
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Und was soll das überhaupt sein, ein „Geschlechterrollenbild“? Geht das nicht einfacher? Reicht nicht „Geschlechterrolle“ aus? Was, mit Verlaub, auch schon ein etwas sperriges Wort ist. Aber wenn wir wissenschaftlich und korrekt bleiben, was wir Deutschen ja wollen, ist es tatsächlich das individuelle Geschlechterrollenbild, nicht die Geschlechterrolle. „Gender“ greift also kurz, lässig und griffig ein komplexes deutsches Wortgefüge zusammen, das sonst zwölf Silben hätte und eh kaum spontanen Sinn ergibt. Da kommt auch die deutsche Pragmatik ins Spiel.
Ich kann komplett verstehen, wenn man da wütend wird – das Ding soll jeden betreffen, aber verstehen kann man das nicht. Das ist komplizierter als das Corona-Regelsystem oder die Steuererklärung, und irgendwas mit Geschlecht, verdammt noch mal, kann doch nicht so schwer sein. Mann, stark, Bart; Frau, Busen, weich. Mensch!
Wieso gibt es das Wort „Gender“ nicht auf Deutsch?
Ja, sehen Sie, und da wird es hakelig. Wenn Sie heutzutage auf dem hippen beruflichen Selbstdarstellungsportal LinkedIn unterwegs sind, stehen da unter vielen Namen die Pronomen, mit denen jemand angesprochen werden möchte. She/her für eher weiblich, he/him für eher männlich, und they/them für irgendetwas jenseits davon. Weil jemand vielleicht aussieht wie eine Frau, aber es gar nicht ist. Weiß man heute ja eh nicht mehr, wo Männer Ohrringe tragen und Frauen kurze Haare. Das darf man alles doof finden, aber es macht „individuelles Geschlechterrollenbild“ nicht kürzer, und die Diskussionen darüber auch nicht. Vielleicht, haben sich da so manche gedacht, hilft da wenigstens ein kurzer, ominöser Begriff.
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„Gender“ wird auch als das „soziale Geschlecht“ ins Deutsche übersetzt. Aber das ist ganz schön schwammig und ich möchte davon abraten. Ich möchte das an folgendem Beispiel erklären: Das bei Geburt bestimmte Geschlecht eines Säuglings ist auf Englisch ein „sex“, nicht ein „gender“. Man könnte meinen, dass wir deshalb vom „Sex Mainstreaming“ anstatt „Gender Mainstreaming“ sprechen müssten, wenn es darum geht, die Geschlechter in Einkommen und beruflicher Teilhabe gleichzustellen. Denn die Studien dazu beruhen doch ganz klassisch auf biologisch „Mann“ und „Frau“. Aber „Sex Mainstreaming“? Soweit kommt’s noch. Mein Sex, mein Haus, meine Privatsphäre! Vielleicht war Brüssel da einfach zu prüde? Nein, tatsächlich sollen hier nicht die biologischen Geschlechter, sondern das angeglichen werden, was wir „dem Mann“ und „der Frau“ an Interessen und Kompetenzen zuweisen. Diese Fähigkeiten sind nämlich nicht biologisch bestimmt, sondern werden den Geschlechtern gesellschaftlich zugeschrieben (deshalb: „soziales Geschlecht“). Frauen sollen als genauso kompetent in Technik, Forschung, Politik oder Führung gesehen werden wie Männer. Was nicht bedeutet, dass wir alles und alle gleichmachen! Weil das aber so viele fürchten, finde ich den Begriff des „individuellen Geschlechterrollenbilds“ viel hilfreicher.
„Mann“ und „Frau“ sagt wenig darüber aus, wie vielfältig „Mannsein“ und „Frausein“ gelebt werden
Ein „individuelles Geschlechterrollenbild“ ist nämlich, wie Sie selbst Ihre Geschlechterrolle leben. Von Geschlechterrollen haben wir in einer Kultur in der Regel zwei: Die klassisch männliche (Bier, Muskeln, Technik, Machen) und die klassisch weibliche (Wein, Lächeln, Gala, Gefühle). Ihr eigenes Gender ist also hochindividuell und privat. Da mischt sich niemand ein und das nimmt Ihnen niemand weg. Sie heulen wie ein Schlosshund, wenn Pauli verliert, trinken gerne ungeniert einen Piccolo bei den Ladys mit, stehen heimlich auf Helene Fischer und sind Ihrer Frau treu? Und finden, Sie sind ein richtiger Mann? Na also. Ihr ganz eigenes Gender. Insofern ist der Begriff sehr befreiend. Kein Zwang, kein Gaga, keine Diktatur. Ob sie es nun mit G oder Dsch aussprechen, ist dabei eigentlich auch komplett egal. Klingt gut? Finde ich auch! Deshalb bin ich auch so gerne Genderforscherin: Weil „Mann“ und „Frau“ ziemlich wenig darüber aussagen, wie vielfältig „Mannsein“ und „Frausein“ interpretiert und gelebt werden können.
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