Mit 70-jähriger Verspätung: Sohn erhält Abschiedsbrief seines Vaters
Joop Will hat als junger Mann sehr darunter gelitten, ohne Vater groß zu werden. Inzwischen ist er 88, und als sich die Arolsen Archives bei ihm melden, weil sie ihm nach so langer Zeit noch persönliche Gegenstände seines Vaters übergeben wollen, kann er es kaum fassen, ist überglücklich. Mit mehr als 70-jähriger Verspätung kann der Sohn ihn nun lesen: den Abschiedsbrief, den Peter Will – einst Insasse des KZ Neuengamme – kurz vor seinem Tod 1945 schrieb. Was drin steht, darüber will Joop Will nicht reden. Zu persönlich. Zu bewegend.
Es ist vielleicht die emotional aufwühlendste Ausstellung des Jahres, die da seit Donnerstag in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zu sehen ist. „#StolenMemory“ heißt sie – gestohlene Erinnerungen (MOPO berichtete). Auf Plakaten werden in einem umgebauten Überseecontainer persönliche Dinge gezeigt, die die SS den Gefangenen bei ihrer Inhaftierung abgenommen hat: Schmuck, Fotos, Briefe, Pässe.
Dass überhaupt so viel erhalten ist vom Eigentum der Häftlinge, ist ein Glücksfall der Geschichte und hat vor allem damit zu tun, dass die SS-Aufseher eigentlich vorhatten, sich daran zu bereichern.
SS wollte sich bereichern – nur deshalb blieb der Schatz erhalten
Rückblick: April 1945. Die letzten Wochen vor dem Ende des NS-Regimes. Es herrscht Chaos. Der Krieg ist verloren – das ist selbst dem glühendsten Nazi jetzt klar. Ziel der SS ist es, dass das KZ Neuengamme vollständig geräumt ist, wenn die britischen Truppen einrücken. Von den Verbrechen soll möglichst nichts erkennbar sein. Also werden die Insassen fortgeschafft: auf Todesmärsche geschickt, in Viehwaggons abtransportiert. So weit weg wie möglich.
Etwa zeitgleich erteilt SS-Sturmbannführer Christoph-Heinz Gehrig, der Verwaltungsleiter des KZ-Kommandanturstabes, den Befehl, alles, was von Wert ist, in „Sicherheit“ zu bringen. 7800 Umschläge mit persönlichem Besitz der Gefangenen, außerdem riesige Textilbestände der Häftlingskleiderkammer – genug für 10.000 Personen – werden in Eisenbahnwaggons verladen und in den Ort Lunden in Dithmarschen gebracht. Dort ist SS-Oberscharführer Franz Wulf zu Hause, Leiter der Effektenkammer. Er sorgt dafür, dass der Schatz auf der Kegelbahn der örtlichen Gaststätte deponiert wird.
Die SS will sich alles unter den Nagel reißen. Doch britische Truppen durchkreuzen diesen Plan. Am 14. Mai 1945 – elf Tage nach der Kapitulation Hamburgs – stellen alliierte Soldaten den „Schatz“ sicher, dessen Wert sie auf 100.000 Pfund Sterling schätzen.
Für 2500 Tüten mit persönlichen Gegenständen sind die rechtmäßigen Eigentümer nicht gefunden
2500 Tüten mit persönlichen Gegenständen von Nazi-Opfern aus 30 Ländern, die sogenannten „Effekten“, lagern auch heute noch, 76 Jahre nach Kriegsende, in den Arolsen Archives in Hessen. Sie wurden nie zurückgegeben. Aber das soll nicht so bleiben: Das weltgrößte Archiv zum Thema NS-Verfolgung und NS-Opfer unternimmt seit ein paar Jahren große Anstrengungen, um Verwandte ausfindig zu machen und ihnen die Gegenstände zu übergeben.
Genau diesem Zweck dient die Wanderausstellung, die durch die Lande tourt und bis zum 11. August nun auch in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zu sehen ist. Die Botschaft, die von ihr ausgeht, lautet: Jeder kann die Arolsen Archives bei der Rückgabe der Effekten unterstützen und sich selbst auf Spurensuche begeben. Vor allem in Polen gibt es Netzwerke von Hobbyhistorikern, denen es gelang, etliche Angehörige ausfindig zu machen. Aber auch Freiwillige in vielen anderen Ländern helfen mit. So konnten seit dem Start der Kampagne 2015 schon mehr als 500 Effekten zurückgegeben werden.
Wie viel es den Familien bedeutet, die Armbanduhr oder den Kamm ihres Vaters, Onkels oder Großvaters, ihrer Großmutter oder Tante zu bekommen, auch das zeigt die Ausstellung: Mit dem Smartphone können Besucher über eine App Videoporträts aufrufen, in denen Angehörige selbst zu Wort kommen. Erzählt wird etwa die Geschichte von Joop Will, der nach 70 Jahren den Abschiedsbrief seines Vaters in den Händen hält. Und auf der Homepage www.stolenmemory.org wird auch von Johanna Aykens-Berens (93) berichtet, die glücklich ist über die Brieftasche ihres Bruders, der im Alter von 21 Jahren, wenige Tage nach seiner Befreiung, an Tuberkulose starb.
„Meine Mutter versteht jetzt: Das ist heute ein anderes Deutschland als damals“
Die Rückgabe der Brieftasche nach so langer Zeit bedeutet „vor allem meiner Mutter sehr viel“, so Johanna Aykens-Berens’ Sohn in einem Brief an die Arolsen Archives. „Sie war in Tränen aufgelöst. Sie kann den Deutschen niemals verzeihen, was sie ihr, ihrer Familie und ihrem Land angetan haben. Aber sie begreift auch, dass wir jetzt ein anderes Deutschland und eine andere Generation haben. Es ist wunderbar zu sehen, dass so viele Menschen – Deutsche – nach so vielen Jahren immer noch auf der Suche nach Angehörigen von Opfern sind.“
Die Wanderausstellung „#StolenMemory“ ist noch bis zum 11. August in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zu sehen, Jean-Dolidier-Weg 75, 21039 Hamburg. Geöffnet montags bis freitags 9.30-16 Uhr, am Sonnabend und am Sonntag 12-19 Uhr. Nähere Infos zu den Arolsen Archives: www.arolsen-archives.org