Corona in Großbritannien: Die Explosion nach dem „Freedom Day“ ist ausgeblieben
Selbstverantwortung statt Maskenpflicht, volle Clubs statt Sitz-Konzerte mit Abstand: Vor knapp vier Wochen, am 19. Juli, hat Großbritanniens Premierminister Boris Johnson den „Freedom Day“ (Tag der Freiheit) ausgerufen. Viele Expert:innen befürchteten einen explosionsartigen Anstieg der Corona-Zahlen. Der ist zwar bislang ausgeblieben. Vorbei ist die Pandemie in Großbritannien aber trotzdem nicht.
„Bitte, bitte, seien Sie vorsichtig“: Flehend wandte sich Boris Johnson Mitte Juli an die Briten, bat darum, trotz Aufhebung aller Corona-Regeln weiter Abstand zu halten, weiter freiwillig Maske zu tragen. Da zeigte die Corona-Kurve gerade steil nach oben, knapp 50.000 Neuinfektionen registrierte Großbritannien täglich – so viele wie zuletzt im Frühjahr.
Corona in Großbritannien: Schlimmste Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet
Die Aufhebung der Corona-Maßnahmen wollte Johnson trotzdem nicht absagen, zu deutlich hatte er den Weg seines Landes aus dem Lockdown zuvor als „unumkehrbar“ beschrieben. Expert:innen warnten vor einer Explosion der Infektionszahlen: Es sei „beinahe unausweichlich“, dass es bald täglich mehr als 100.000 Neuinfektionen geben werde, erklärte beispielsweise der renommierte britische Epidemiologe Neil Ferguson: „Die echte Frage ist, ob es doppelt so viel wird oder sogar noch mehr.“
Knapp vier Wochen später ist klar: Die schlimmen Befürchtungen haben sich – zumindest bislang – nicht bestätigt. Die Zahl der täglich registrierten Neuinfektionen schwankt derzeit zwischen 25.000 und 33.000, gestern wurden 28.358 neue Fälle gemeldet. Das sind zwar deutlich mehr als noch im Mai, als täglich gerade einmal 2000 neue Fälle gemeldet wurden. Doch anders als zu Jahresbeginn ist die Lage in den Krankenhäusern relativ stabil, eine Überlastung des Gesundheitssystems ist nicht absehbar – trotz einer hohen Sieben-Tage-Inzidenz von 298.
Corona in Großbritannien: Zahl der Klinikeinweisungen stabil
Die Zahl der Klinikeinweisungen liegt im Sieben-Tage-Mittel seit Ende Juli stabil um die 6000, also weit entfernt von den Höchstwerten aus dem Januar, als in der Spitze mehr als 38.000 Menschen auf Covid-Stationen landeten. Zum Vergleich: Im Mai und Juni, also vor dem „Freedom Day“, lag die Zahl der Hospitalisierungen im Sieben-Tage-Schnitt unter 1000.
Die Zahl der täglich registrieren Todesfälle schwankte in der vergangenen Woche zwischen 150 und 50, gestern wurden 28 neue Todesfälle gemeldet. Im Januar starben in der Spitze täglich mehr als 1400 Menschen an den Folgen einer Corona-Infektion, im Mai und Juni hingegen gab es an mehreren Tagen überhaupt keine Corona-Toten.
Vergleichende Analysen der britischen Zeitung „Guardian“ bestätigen, dass die dritte Welle in Großbritannien wesentlich glimpflicher verläuft als die zweite: Während die Gesamtzahl der registrierten Infektionen dieses Mal höher ist, ist die Zahl der Hospitalisierungen – und vor allem die Zahl der täglich registrierten Todesfälle – deutlich niedriger.
Corona in Großbritannien: Wie sind die stabilen Zahlen zu erklären?
Wie sind die relativ stabilen Zahlen zu erklären – voller Tanzflächen und abgeschaffter Maskenpflicht in Zeiten der hochansteckenden Delta-Variante zum Trotz? Die britische Regierung führt die stabile Lage auf den Erfolg der Impfkampagne zurück. Impfungen hätten in England 23 Millionen Infektionen und 84.600 Todesfälle verhindert, twitterte Gesundheitsminister Sajid Javid vor wenigen Tagen: „Die Impfungen sind unsere Verteidigungsmauer, sie haben uns erlaubt, näher zum normalen Leben und zu den Dingen, die wir lieben, zurückzukehren.“
Tatsächlich ist die Impfquote hoch: Über 60 Prozent der Briten sind vollständig geimpft, über 70 Prozent haben immerhin die Erstimpfung bekommen. Behördenangaben zufolge haben über 90 Prozent der Erwachsenen Covid-19-Antikörper im Blut – wegen Impfungen oder überstandener Infektionen.
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Expert:innen führen die stabilen Corona-Zahlen aber auch auf andere Faktoren zurück – unter anderem auf einen Rückgang der Zahl der täglichen Tests: Wurden Mitte Juni im Wochenschnitt noch rund eine Million Briten getestet, waren es in den vergangenen Wochen nur noch etwa 750.000. Dazu gibt es zumindest punktuell weiter Schutzmaßnahmen: So haben etwa die Verkehrsbetriebe der Acht-Millionen-Metropole London die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln beibehalten.
Und schließlich greift wohl auch teilweise die von Boris Johnson von der Bevölkerung so eindringlich eingeforderte Eigenverantwortung: Einer offiziellen Umfrage der britischen Regierung zufolge gaben über 90 Prozent der Briten kurz nach dem „Freedom Day“ an, weiterhin in bestimmten Situationen Maske zu tragen, beispielsweise beim Einkaufen.
Corona ist auch in Großbritannien nicht vorbei
Knapp vier Wochen nach dem „Freedom Day“ ist die britische Regierung zufrieden, sieht aber bislang von allzu großem Jubel ab: Zu groß ist die Gefahr, dass die Fallzahlen noch einmal deutlich steigen, beispielsweise durch die Verbreitung neuer Varianten, die gegen Impfstoffe resistent sind.
„Jede Umgebung mit hohen Fallzahlen birgt das Risiko, dass neue Varianten entstehen“, mahnt beispielsweise der Mediziner Azeem Majeed, ein Experte für öffentliche Gesundheit am Londoner Imperial College. In Großbritannien sei das nach wie vor der Fall. Es sei also nicht auszuschließen, dass auch den Briten noch einmal strengere Corona-Maßnahmen drohen könnten.