Seit 1848: So erbittert haben Hamburger ums Wahlrecht gekämpft
An diesem Wochenende ist Bundestagswahl. Vielleicht die wichtigste Wahl seit langem. Es geht um eine Richtungsentscheidung: Was passiert mit Klimaschutz und sozialer Gerechtigkeit in unserem Land? Sein Kreuz zu machen und mitzuentscheiden – das sollte für jeden eine Selbstverständlichkeit sein. Denn schließlich: Es ist noch nicht so lange her, dass Menschen auf die Barrikaden gegangen sind und ihr Leben riskiert haben im Kampf für allgemeines und freies Wahlrecht.
Zum Beispiel während der Revolution 1848. Wie die Menschen im Rest Europas auch sind viele Hamburger damals zutiefst unzufrieden. Allein die Reichen haben das Recht, politisch mitzubestimmen: die 3000 „erbgesessenen Bürger“ nämlich, also diejenigen, die über Grundbesitz innerhalb von Hamburgs Wallanlagen verfügen. Die übrigen 150.000 Einwohner haben nichts zu sagen. Kein Wunder, dass es im Kessel brodelt. Und am 3. März 1848, einem Freitag, explodiert er.
Revolution 1848: Bürger akzeptieren nicht länger, dass allein die Reichen das Sagen haben
Wie bedrohlich die Lage ist, spüren die Senatoren im Rathaus schon seit einiger Zeit. Gut eine Woche zuvor sind in Paris Bürger auf die Barrikaden gegangen und haben den König zur Emigration gezwungen. Es ist unübersehbar, dass der Funke nun auf Deutschland überspringt.
Mehr Samstag. Mehr Sonntag. Mehr MOPO!
Unsere extra-dicke MOPO AM WOCHENENDE hat es in sich: Auf 64 Seiten gibt’s aktuelle News, packende Reportagen, spannende Geschichten über Hamburgs unbekannte Orte und die bewegte Historie unserer Stadt, die besten Ausgehtipps für’s Wochenende, jede Menge Rätsel und vieles mehr. Die MOPO AM WOCHENENDE: Jeden Samstag und Sonntag für Sie am Kiosk – oder ganz bequem im Abo unter MOPO.de/abo
Am Abend des 3. März ist Ratssitzung in Hamburg. Eilig diskutieren die Senatoren, wie das Volk beruhigt werden könnte. Ein Vorschlag lautet: die Pressefreiheit einzuführen und damit eine der Hauptforderungen der Opposition zu erfüllen.
Als sich die Senatoren auf den Heimweg machen, gibt es erste Tumulte. Wütende Bürger dringen in das Haus von Bürgermeister Heinrich Kellinghusen (1796-1879) ein. Bei den Senatoren Martin Hieronymus Hudtwalcker (1787-1865) und Heinrich Johann Merck (1770-1853) schmeißen sie Steine durch die Fenster. Allerdings sorgt das Bürgermilitär schnell für Ruhe. Die Revolution bleibt aus. Noch.
Die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung sind unmenschlich
Wer den Film „Gangs of New York“ kennt, der in den Elendsvierteln Manhattans spielt, hat eine Vorstellung davon, wie es Mitte des 19. Jahrhunderts in Hamburg zugeht: In den mit Fachwerkhäusern dicht bebauten Gängevierteln leben arme Teufel unter menschenunwürdigen Bedingungen. Aus den Fleeten stinkt es. Es gibt kein Sonnenlicht. Es ist eng und feucht. Überall Bettler. Arbeitslose.
Gerade die Lage der einfachen Bevölkerung ist noch schlimmer geworden, seitdem 1842 beim Stadtbrand ein großer Teil der Stadt in Schutt und Asche gelegt wurde: Um den Wiederaufbau zu finanzieren, sind die Abgaben auf Grundnahrungsmittel erhöht worden – das trifft die Armen am härtesten.
Die Opposition ist in zwei Gruppen gespalten: Da sind einmal die Liberalen, die schon mit ein paar Reformen zufrieden wären. Daneben gibt es die Demokraten, die die alte Ordnung über den Haufen werfen wollen. Sie einigen sich auf einen Katalog mit zwölf Forderungen – dabei steht das allgemeine Wahlrecht ganz oben.
Die Senatoren spielen auf Zeit. Um nicht aus dem Amt gejagt zu werden, geben sie vor, gesprächsbereit zu sein. Am 13. März 1848 wählt die Bürgerschaft eine Reform-Deputation, die innerhalb von sechs Monaten Verbesserungsvorschläge erarbeiten soll. Wie wenig ernst es den Senatoren damit ist, zeigt die Zusammensetzung: Fast ausschließlich „erbgesessene Bürger“, aber kaum Oppositionelle sind vertreten.
Am 9. Juni 1848 stecken die Bürger das Steintor in Brand
Den Menschen auf der Straße bleibt das nicht verborgen. Sie fühlen sich betrogen: Am Abend des 13. März wird die Kutsche des Bürgermeisters mit Steinen beworfen, Demonstranten liefern sich eine Schlacht mit dem Bürgermilitär. Dabei wird ein Maurergeselle mit einem Bajonett aufgespießt und getötet.
Ruhe will sich jetzt nicht mehr einstellen: Am 9. Juni stecken Demonstranten das Steintor in Brand. Schon lange sind die Stadttore, die nach Einbruch der Dunkelheit geschlossen und nur gegen Zahlung einer Gebühr wieder geöffnet werden, ein Symbol der Unfreiheit.
Im Sommer 1848 sieht es für einen Moment so aus, als habe die Revolution gesiegt: Die Opposition setzt die sofortige Freilassung ihrer verhafteten Führer durch. Und weil das Bürgermilitär sich weigert, weiter gegen die Mehrheit der Bevölkerung vorzugehen, kann es der Senat nicht verhindern, dass die Bürger an die Wahlurnen gerufen werden, um über die Zusammensetzung einer verfassungsgebenden Versammlung abzustimmen.
Die Revolutionäre aber sind nicht entschlossen genug, zögern zu lange und scheuen sich, vollendete Tatsachen zu schaffen. So verpassen sie den richtigen Zeitpunkt. Als im Juli 1849 die neue Verfassung fertig ist, ist sie das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben steht. Die Kräfteverhältnisse haben sich inzwischen völlig verschoben. Preußische Truppen besetzen Hamburg und stellen die alte Ordnung wieder her. Und so bleibt sie tatsächlich noch weitere zehn Jahre bestehen: die „Erbgesessene Bürgerschaft“, der Club der Superreichen.
1859 wird die Bürgerschaft endlich gewählt – aber nur wenige dürfen mitmachen
Dann aber ändert sich was: Am 24. November 1859 wird Hamburgs Parlament erstmals in „allgemeinen Wahlen“ gewählt. Allerdings gibt die herrschende Elite ihre Macht nur scheibchenweise ab: Lediglich über 84 von 192 Abgeordneten darf das Wahlvolk bestimmen. 108 Sitze besetzen weiterhin die „Erbgesessenen“ und die sogenannten „Notabeln“ – das sind Bürger mit Ehrenämtern.
Daneben gibt es weitere Einschränkungen: Wählen darf allein der, der über das „Bürgerrecht“ verfügt – und das bekommt nur, wer wohlhabend ist und mindestens ein Monatseinkommen von 100 Mark hat (das ist doppelt so viel wie der Durchschnittslohn). Die Folge: Von den 324.000 Einwohnern, die 1890 in der Stadt leben, sind gerade mal 24.000 wahlberechtigt – nur Männer.
Inzwischen schickt sich Hamburg an, Deutschlands Hauptstadt der Arbeiterbewegung zu werden. Als es trotz aller Hürden des Wahlrechts 1901 Otto Stolten als erstem Sozialdemokraten gelingt, einen Sitz in der Bürgerschaft zu erringen und 1904 weitere 13 SPD-Abgeordnete dazukommen, wächst bei den Kaufleuten, Großgrundbesitzern und Advokaten die Angst, ihre Macht zu verlieren. Ihre Reaktion: Eine Senatskommission wird eingesetzt, die prüfen soll, „durch welche Mittel einem übermäßigen Eindringen sozialdemokratischer Elemente in die Bürgerschaft vorgebeugt werden könne“.
1906 begehen die Konservativen „Wahlrechtsraub“ – es kommt zu Unruhen
Und diese Kommission schlägt vor, das Wahlrecht, sagen wir, „anzupassen“. Die Gruppe der Bürger mit einem Jahreseinkommen von 1200 bis 2500 Mark soll nur noch über 24 Sitze in der Bürgerschaft bestimmen dürfen, die Gruppe der Bürger, deren Einkommen darüber liegt, über 48 Sitze. Acht weitere Sitze sind den ländlichen Gebieten vorbehalten, wo sowieso konservativ gewählt wird. Und wie gewohnt haben Grundeigentümer und die Notabeln Anspruch auf jeweils 40 Sitze.
Damit ist es zementiert: Die SPD kann so niemals auch nur in die Nähe einer Mehrheit kommen.
„Wahlrechtsraub“ nennen die Sozialdemokraten das und rufen für Mittwoch, 17. Januar 1906, zum Streik auf, dem ersten Generalstreik der deutschen Geschichte. Ewerführer, Kesselreiniger, Schlosser, Zigarrenmacher, Glasbläser, Maurer und viele andere strömen zum Rathaus, wo das gerade neue Wahlgesetz beraten wird. Berittene Polizisten mit gezogenen Säbeln drängen die Arbeiter zurück.
Das Zentrum der Unruhen verlagert sich ins Gängeviertel, und zwar in die Straße Schopenstehl, wo Barrikaden errichtet werden und Arbeiter damit beginnen, Polizeibeamte mit herausgerissenen Pflastersteinen und Abfalleimern zu attackieren. Blutende Männer, Frauen und Kinder rennen durcheinander. Ein Polizist zerschmettert einem Mann mit einem Säbelhieb den Hinterkopf.
Die Wut der Arbeiter kümmert die Bürgerschaft aber nicht: Am 28. Februar 1906 stimmen die Abgeordneten über die Wahlrechtsänderung ab – 120 votieren dafür, 35 dagegen. Vergeblich die Worte von SPD-Fraktionschef Otto Stolten, der in seiner Rede warnt, dass es sich im politischen Leben als unmöglich erwiesen habe, „eine Strömung, die den herrschenden Parteien unbequem ist, unterdrücken zu wollen“. Und er fährt fort: „Sie werden dann, wenn Sie dieses Zwangsgesetz zurücknehmen müssen, gezwungen sein, viel mehr zu bewilligen, als jetzt die Hamburger Arbeiterschaft besitzt.“
Zwölf Jahre später, in der Novemberrevolution 1919, wird genau das passieren.
Mit üblen Tricks versuchen die Herrschenden, die SPD von der Macht fernzuhalten
Wie anachronistisch das restriktive Wahlrecht in Hamburg und anderen deutschen Teilstaaten ist, zeigt ein Blick auf das Deutsche Reich. Denn das hat seit der Gründung 1871 ein Wahlrecht, das zu den modernsten in ganz Europa gehört, und dafür hat noch nicht mal jemand auf die Barrikaden gehen müssen – es wurde vielmehr von oben verordnet: Bei Reichstagswahlen sind alle Männer ab dem vollendetem 25. Lebensjahr wahlberechtigt. Ausgenommen sind lediglich Personen, die Armenunterstützung beziehen oder unter Vormundschaft stehen.
Es gilt das absolute Mehrheitswahlrecht: Jeder Wahlkreis wählt einen Abgeordneten in den Reichstag. Hat keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit, gibt es zwischen den beiden stärksten eine Stichwahl. Dabei kommt es regelmäßig vor, dass sich konservative und liberale Parteien absprechen und sich hinter einem Abgeordneten vereinen, um so zu verhindern, dass ein Sozialdemokrat das Mandat holt.
Benachteiligt ist die SPD auch durch die unterschiedliche Bevölkerungsdichte der Wahlkreise: In einem ländlichen Wahlkreis wie etwa Schaumburg-Lippe mit 12.000 Wählern, der üblicherweise an einen Konservativen geht, reichen schon 6001 Stimmen, um zu siegen. Die SPD dagegen hat ihre Anhänger in den städtischen Wahlkreisen, die bevölkerungsstark sind. In Teltow-Charlottenburg etwa mit 300.000 Wählern benötigt der SPD-Kandidat 150.001 Stimmen zum Sieg. Das führt dazu, dass die SPD trotz hohen Stimmenanteils nur wenige Sitze bekommt. Beispielsweise 1890: Da holen die Sozialdemokraten 1,4 Millionen Stimmen (19,7 Prozent), erhalten aber nur 35 von 397 Sitzen im Parlament – ein Anteil von 8,8 Prozent.
1919: Endlich dürfen alle wählen – zum ersten Mal auch Frauen
Es ist der verlorene Erste Weltkrieg, der das Kaiserreich hinwegfegt und die alten Eliten entmachtet. In den Teilstaaten wie im Reich wird das Verhältniswahlrecht eingeführt. Nicht mehr nur Reiche dürfen wählen, sondern jeder Mann und (ganz neu!) jede Frau. Das ist endlich echte Demokratie.
Das könnte Sie auch interessieren: Wie schlagen sich Hamburgs Politiker auf Instagram? Ein Experten-Check
Leider währt sie nur 14 Jahre. Im März 1933 geht mit der Zustimmung des Reichstags zum Ermächtigungsgesetz alle Macht an Diktator Adolf Hitler über. Sämtliche Fraktionen beugen sich dem Druck der Nazis – lediglich die Sozialdemokraten haben die Courage, mit Nein zu stimmen. SPD-Fraktionschef Otto Wels ruft Hitler zu: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“
Es folgen NS-Terror, Krieg, Holocaust, bevor am 13. Oktober 1946 die erste Hamburg-Wahl der Nachkriegszeit stattfindet. Die SPD erringt die absolute Mehrheit. Bürgermeister wird der aus dem US-Exil zurückgekehrte Max Brauer (SPD).
Das könnte Sie auch interessieren: Das Wahl-Orakel bei Hamburg – wer hier gewinnt, wird Kanzler
Drei Jahre später geht aus der ersten Bundestagswahl die CDU knapp als stärkste Kraft hervor. Konrad Adenauer (CDU) wird zum ersten Bundeskanzler der jungen Bundesrepublik gewählt. Bis 1963 bleibt er im Amt, bevor Ludwig Erhard (CDU) ihn beerbt. Es folgen Kurt-Georg Kiesinger (CDU), Willy Brandt (SPD), Helmut Schmidt (SPD), Helmut Kohl (CDU), Gerhard Schröder (SPD) und Angela Merkel (CDU). Und wer ist der oder die nächste?