Tierisch: Der Musical-Mozart vom Kiez hat wieder zugeschlagen
Ob „Das Wunder von Bern“, „Heiße Ecke“, „Der Schuh des Manitu“ oder „Serengeti“: Aus der Feder von Martin Lingnau (49) stammt die Musik für zahlreiche Erfolgs-Musicals und Filme. Nicht umsonst wird er als „Melodienmacher für Millionen“ bezeichnet. Am kommenden Freitag feiert das Familien-Musical „Der achtsame Tiger“, das er zusammen mit Heiko Wohlgemuth (Liedtexte) schrieb, Weltpremiere. Natürlich in Lingnaus Stammhaus, dem Schmidts Tivoli. Als die MOPO ihn in seinem Studio auf St. Pauli trifft, erzählt er von frühen Berufswünschen, schlimmen Träumen und Glücksgefühlen.
MOPO: Wie wird man eigentlich Musical- und Filmkomponist?
Martin Lingnau: Als Kind wollte ich „Tatort“-Komponist werden. Ich habe früh damit angefangen, Geschichten mit Musik zu erzählen. Ich hatte einen Kassettenrecorder, nahm damit Hörspiele auf und unterlegte sie mit Musik. Die war zwar nicht von mir, aber das waren die Anfänge. Wenn man einen Popsong schreibt, ist das ein Polaroid oder eine Momentaufnahme. Ein Musical ist wie ein Roman. Das hat mich immer gereizt: Also nicht nur ein Lied zu schreiben, sondern auch zu überlegen: Wer singt das, wie, warum, zu wem und in welcher Situation? Und wie kombiniert man diese Lieder dann zu einem dramaturgischen Bogen? Das hat mich auch immer begeistert, wenn ich Filme oder Musicals gesehen habe oder Konzeptalben gehört habe. Dadurch wurde meine Leidenschaft geweckt.
Gehört auch Glück dazu?
Ohne zur richtigen Zeit am richtigen Ort die richtigen Menschen zu treffen, passiert gar nichts. Aber wenn man dann nicht vorbereitet ist und seine Hausaufgaben nicht gemacht hat, hilft auch Glück nicht.
Sie sind sehr früh im Schmidts Tivoli gelandet.
Ja. Und ich kann mich sehr glücklich schätzen, dass ich dort sehr viel Vertrauen geschenkt bekam, mich kreativ austoben konnte und das auch immer noch kann. Das ist ein ganz seltenes Glück. Es gibt nicht viele Orte, wo Uraufführungen an der Tagesordnung stehen, wo es wirklich gewünscht ist, Neues zu schaffen. Die meisten Spielstätten setzten eher auf Bekanntes und Bewährtes, um ihr Risiko zu minimieren. Im Tivoli ist es genau das Gegenteil: Es ist der Wunsch, eigene deutschsprachige Musiktheater-Produktionen zu schaffen und klar zu sagen: Wir haben hier eine kreative Kraft in Deutschland und auch tolle Stoffe.
Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit Corny Littmann?
Das war bei „Cabaret“ und ist fast 30 Jahre her. Ich saß im Theater, er lief an mir vorbei und sagte: „Wer ist das denn?“ Und dann hat irgendwer geantwortet: „Das ist der neue Probenpianist.“ Und er meinte: „Ach ja, dann soll er mal.“ Als wir dann 1994 für „Fifty-Fifty“ wirklich angefangen haben zusammen zu arbeiten, war ich gerade mal 23 Jahre alt. Das war schon bemerkenswert, wie viel Verantwortung und Vertrauen in mich gesetzt wurde.
Obwohl Sie für andere Theaterproduktionen und Filme komponiert haben, sind Sie den Schmidt-Theatern treu geblieben.
Es ist bis heute meine künstlerische Heimat. Es ist ein Theater mit einer sehr familiären Atmosphäre. Dort wird sehr uneitel gearbeitet und auf Augenhöhe im Teamwork auf kurzem Weg was Tolles geschaffen. Insofern stellt sich mir gar nicht die Frage, ob ich woanders hingehen möchte – man kann gar nicht woanders hingehen. (lacht)
Am Freitag hat „Der achtsame Tiger“ im Tivoli Uraufführung. Es ist inspiriert vom gleichnamigen Kinderbucherfolg. Was zeichnet es aus?
Es ist ein Stück Musiktheater geworden, das mit ganz großer Leichtigkeit und unglaublich viel Humor daherkommt, aber es verklickert auch ganz nebenbei auf leisen Pfoten ein paar gute Gedanken. Auch wenn es unter Kindertheaterstück läuft, ist es auch für Erwachsene. Wir achten im Schmidts Tivoli immer darauf, dass alle Generationen davon abgeholt werden, indem unterschiedliche Humor-Ebenen drin sind: Mal lachen die Eltern, mal die Kinder, und mal lachen alle zusammen. Unsere Kindertheater-Produktionen liegen mir schon sehr am Herzen.
Das könnte Sie auch interessieren: Große Sause: Schmidts Tivoli feiert 30. Geburtstag
Kennen Sie eigentlich die Panik vor der Deadline?
Ich habe diese Träume, dass das Publikum zu einer Premiere kommt, und ich muss allen sagen, dass ich das Stück noch gar nicht geschrieben habe. Aber eigentlich ist die Deadline mein Freund. Wenn ich weiß, dass ich zu einem bestimmten Zeitpunkt fertig sein muss, dann verschwindet der Editor in meinem Kopf. Denn manchmal steht man sich als Kreativer im Weg und fragt sich die ganze Zeit: Ist das gut genug, was ich mache? Wenn du eine harte Deadline hast, hast du gar keine Zeit, dich mit dir selbst zu beschäftigen, mit den Stimmen und Zweifeln in deinem Kopf. Das ist manchmal hilfreich.
Woran arbeiten Sie gerade?
Mit Ingmar Süberkrüb (Kaiser Quartett, Anm. d. Red.) habe ich auf St. Pauli eine Composer-Community. Wir machen die Musik für die Serie „Der Palast“ von Uli Edel, die Anfang 2022 im Fernsehen gezeigt wird. Das ist ein Opus mit Musik für 270 Minuten Film – da käme man alleine auch gar nicht durch. Es ist zwar kein Musicalfilm, aber die Serie spielt am Friedrichstadtpalast. Es gibt viele Showszenen und dann noch den Score, den eigentlichen Soundtrack. Es sind also zwei verschiedene Musikebenen, die wir da komponiert und erfunden haben, und die thematisch verknüpft werden. Insofern ist es ein ganz besonderes, reizvolles Projekt – in seinen Ausmaßen aber auch sehr üppig.
„MOPOP – Der Kultur-Newsletter“ bringt Ihnen jeden Donnerstag gute Nachrichten frei Haus. Ob auf, vor und hinter den Bühnen – wir sind für Sie dabei und sprechen mit den spannendsten Menschen. Dazu gibt’s Tipps zu Veranstaltungen und Neuerscheinungen und vieles mehr. Wir freuen uns auf Sie! Hier klicken und anmelden.
Wie kompromissbereit muss man als Komponist sein, wenn man beispielsweise mit einem Regisseur wie Uli Edel arbeitet?
Man muss ein Teamplayer sein, das ist das Wichtigste. Es geht nicht darum, die beste Musik zu komponieren. Es geht darum, die beste Musik für den Film zu komponieren, die Vision des Regisseurs zu hören und zu verstehen, sich als ein Teil zu sehen und als Diener des Projektes – und nicht etwa für sich allein Musik zu komponieren und sich darin zu verlieren. Das hat aber gar nichts mit Kompromissbereitschaft zu tun. Man muss ein offenes Ohr haben und gut zuhören können. Am Anfang steht immer das lange Gespräch: Was machen wir da eigentlich? Was ist das Ziel? Wie ist die Farbe? Wenn man da gemeinschaftlich gut ist, kommt immer etwas Tolles bei raus.
Macht es für Sie einen Unterschied, ob Sie Musik für ein Fußball-Musical, den „Achtsamen Tiger“ oder wie jetzt gerade für eine Serie über den Berliner Friedrichstadtpalast schreiben?
Ich versuche, jedes Projekt mit einer eigenen Musikfarbe zu versehen, mich auch immer wieder punktuell neu zu erfinden. „Der achtsame Tiger“ klingt völlig anders als „Die heiße Ecke“ oder „Swingin’ St. Pauli“ – obwohl es alles Schmidt- und Tivoli-Produktionen sind. Und „Der Palast“ klingt völlig anders als „Das Wunder von Bern“. Es schafft natürlich eine andere Art der Identifikation, wenn man selbst von Anfang an Ideengeber war. Die Stücke, die man aus Liebe oder aus kreativer Freude macht, sind oftmals die, die ein wesentlich längeres Leben haben, als man es selbst für möglich gehalten hätte. Wer hätte gedacht, dass die „Heiße Ecke“ nach 18 Jahren noch läuft? So was kann man nicht planen.
Apropos „Heiße Ecke“: Was gibt Ihnen der Stadtteil St. Pauli?
Dieser Schmelztiegel und das Bodenständige und Ehrliche der Menschen auf St. Pauli mag ich unheimlich gern. Wenn die Lichter angehen und St. Pauli seine Magie entfacht, ist das einzigartig.
Sie haben also Schmidt-Theater lebenslänglich?
Ja, und das ist auch vollkommen in Ordnung. Und das Gute ist auch, dass die Kollegen es dort wohlwollend und mit Freude beobachten, wenn ich auch andere Sachen mache. Auch wenn ich es punktuell toll finde, große Filmprojekte zu machen, möchte ich auch weiterhin Musiktheater machen, Songs schreiben und für meine Familie Zeit haben. So wie es ist, bin ich unglaublich glücklich.
„Der achtsame Tiger“: 15.10.-20.11. und 28.12.-30.1., diverse Uhrzeiten, Schmidts Tivoli, 26-33,70 Euro (2G-Veranstaltung!)