Alfred M. Fahrdienstleiter
  • Alfred M. muss sich wegen des S-Bahn-Unglücks von 1961 vor Gericht verantworten.
  • Foto: MOPO-Archiv

28 Tote: Als Alfred M. den schlimmsten Fehler seines Lebens machte

Alfred M. hat sich zuvor nie etwas zuschulden kommen lassen. Er ist ein pflichtbewusster Bahnbeamter. Aber dann ist er einmal unaufmerksam, für einen kurzen Moment nur. Es sind wohl Schreibarbeiten, die ihn ablenken und die ihn vergessen lassen, dass da ein Hindernis auf den Schienen steht. Ein Fehler, der nicht mehr gutzumachen ist und der 28 Menschen das Leben kostet. Alfred M. verzeiht sich das nie, ist für den Rest seines Lebens in psychologischer Behandlung. Was für eine Tragödie!

Es ist der 5. Oktober 1961. An einem Donnerstag ereignet sich Hamburgs schlimmstes S-Bahn-Unglück. Gegen 22.30 Uhr verlässt die S-Bahn PS 1819 den Hauptbahnhof. Das Ziel: Bergedorf. Kino- und Theater-Vorstellungen sind gerade vorbei. Andere Passagiere sind beim Kegelabend gewesen und wollen nach Hause. Alle Wagen sind also vollbesetzt.

Noch wenige Minuten bis zur Katastrophe.

Die S-Bahn-Brücke über der Wendenstraße: So sieht die Unglücksstelle von 1961 heute aus Olaf Wunder
Zugunglück S-Bahn
Die S-Bahn-Brücke über der Wendenstraße: So sieht die Unglücksstelle von 1961 heute aus

Fahrdienstleiter Alfred M. macht den schlimmsten Fehler seines Lebens

Die erste Haltestelle: Berliner Tor. Ein paar Fahrgäste steigen aus. Etwa um 22.37 Uhr stellt Fahrdienstleiter Alfred M. (57) im Stellwerk an der Ostseite des Bahnhofs das Ausfahrtsignal auf Grün. Eine Entscheidung, die er gleich darauf bedauert. Denn dann fällt ihm ein, dass doch eben erst ein Bauzug an ihm vorbeigerollt ist. Und dass der noch auf dem Gleis sein muss!

Inzwischen hat der Aufsichtsbeamte am Bahnsteig aber bereits das Zeichen zur Abfahrt gegeben. Die S-Bahn braust mit Tempo 70 ihrem nächsten Ziel entgegen: Station Rothenburgsort. Aber da kommt sie nie an. Vermutlich sieht der Fahrer das Hindernis im letzten Moment. Es gelingt ihm noch, die Geschwindigkeit auf 50 Kilometer pro Stunde zu drosseln.

MOPO-Grafik von 1961: Hier hat der Unfall stattgefunden. MOPO-Archiv
Zeichnung
MOPO-Grafik von 1961: Hier hat der Unfall stattgefunden.

22.38 Uhr. Der Aufprall. Es hört sich an wie ein Bombeneinschlag, als die S-Bahn auf den Bauzug knallt, dessen Fahrer noch gerade rechtzeitig abspringen kann. Es schließen sich Geräusche an, die noch viel grauenhafter sind: Stundenlang gellen die Schreie der Eingeklemmten durch die Nacht.

Zwei riesige Stahlträger bohren sich in den ersten Waggon – 13 Meter tief

Der Zugführer der S-Bahn ist sofort tot. Viele Passagiere auch, denn der Bauzug, bestehend aus einem Kran- und einem sogenannten Niederbordwagen, ist beladen mit zwei riesigen Doppel-T-Träger aus Stahl, die gedacht sind für eine Brücke. Wie Rammböcke bohren sie sich nun in den ersten Waggon – 13 Meter tief. Sie reißen alles mit nach hinten: die Sitze, den Fußboden, die Wände, die Menschen. Die Passagiere werden eingeklemmt, durch die Luft geschleudert, furchtbar verstümmelt.

Zwei riesige stählerne T-Träger bohren sich 13 Meter tief in den ersten Waggon. Alles, was im Weg ist, wird zerquetscht. MOPO-Archiv
S-Bahn-Unglück
Zwei riesige stählerne T-Träger bohren sich 13 Meter tief in den ersten Waggon. Alles, was im Weg ist, wird zerquetscht.

Der Unglücksort: ganz in der Nähe einer Brücke über der Wendenstraße (Hammerbrook). Nur wenige Minuten nach der Katastrophe sind die ersten Helfer da. Allerdings ist die verunglückte Bahn nur schwer zu erreichen: Sie steht oben auf einem zwölf Meter hohen Bahndamm. Passanten klettern hoch. Dort bietet sich ihnen ein grauenvoller Anblick: Aus den Fenstern hängen verstümmelte Menschen. An vielen Stellen tropft Blut auf den Schotter. Dazu die Schreie der Schwerverletzten, die hinter den Trägern eingeklemmt sind. Rund 100 Menschen sind verletzt.

Der größte Hilfseinsatz in Hamburgs Geschichte

Was folgt, ist einer der größten Hilfseinsätze in der Hamburger Geschichte: Rund 30 Minuten nach der Katastrophe sind etliche Streifenwagen, fünf Züge der Feuerwehr, 46 Rettungswagen, zwei Großraum-Krankenbusse und zwei Leichenwagen an der Unglücksstelle. Hunderte von Zivilisten stellen sich als freiwillige Helfer zur Verfügung. Über den Taxi-Funkdienst werden auch alle greifbaren Taxen zur Unglücksstelle dirigiert, damit die Fahrer mithelfen, Opfer in Krankenhäuser zu bringen.

Während Feuerwehrleute und Polizisten verzweifelt versuchen, die Eingeschlossenen zu befreien, irren Verletzte verstört über die Gleise, Menschen rufen weinend nach Angehörigen. Die Helfer können zunächst keine Schweißbrenner einsetzen, weil das die Überlebenden im Zug gefährden würde, also versuchen sie, die S-Bahn-Wände mit Brecheisen, Hacken und Beilen zu zerschlagen. Insgesamt sind 175 Feuerwehrleute im Einsatz.

Rettungsärzte kämpfen um das Leben der Passagiere. Für 28 aber kommt jede Hilfe zu spät dpa
S-Bahn-Unglück
Rettungsärzte kämpfen um das Leben der Passagiere. Für 28 aber kommt jede Hilfe zu spät

Immer mehr Verletzte werden geborgen und anschließend an Seilen von der Eisenbahnbrücke bis auf die Straße runtergelassen. Manchmal ist die Lage so kritisch, dass die Ärzte noch vor Ort Arme und Beine amputieren. Der Bahndamm wird zum Operationstisch. Die Helfer werden nach dem Einsatz nicht psychologisch betreut – so etwas gibt es damals noch gar nicht. Viele werden die Bilder nie mehr aus dem Kopf bekommen.

Bis gegen 3 Uhr sind die Rufe der Eingeklemmten zu hören. Dann wird aus dem Schreien ein Wimmern. Irgendwann ist Ruhe. Totenruhe. Bis 5 Uhr dauert der Einsatz der Hilfskräfte. Der letzte Überlebende wird um 4.45 Uhr geborgen – sechs Stunden nach dem Unglück.

„Diese entsetzlichen Schreie werde ich nie vergessen“

Heike Razka (83) hat unglaubliches Glück gehabt an diesem Tag: Die damals 23-jährige Frau will eigentlich an jenem 5. Oktober 1961 vorne einsteigen – aber da ist alles voll. Deshalb geht sie in die Mitte des Zuges – und überlebt. Lediglich ein Schuh und ihr Hut fliegen durch die Gegend.

Verletzte werden vom Bahndamm abgeseilt und dann ins Krankenhaus gebracht. dpa
S-Bahn-Unglück
Verletzte werden vom Bahndamm abgeseilt und dann ins Krankenhaus gebracht.

Ein 45-jähriger Kaufmann, der in einem hinteren Wagen gesessen hat, erzählt einem Reporter, dass er beim Kegelabend gewesen sei und nach Hause wollte. „Plötzlich gab es einen gewaltigen Stoß. Ich wurde von der Sitzbank in Fahrtrichtung auf den Gang geschleudert. Dann war das Licht aus. Ich sprang sofort ins Freie. Dann stand ich vor dem schrecklich zugerichteten ersten Wagen, in den sich die Eisenträger wie ein Schwert gebohrt hatten. Diese entsetzlichen Schreie werde ich nie vergessen.“

Alfred M., der Fahrdienstleiter, wird noch in derselben Nacht festgenommen. Der Prozess gegen ihn beginnt im Februar 1963: Auch sein Kollege Harald K. sitzt auf der Anklagebank. Richter, Staatsanwalt und Verteidiger schonen die beiden Angeklagten so gut es geht. Denn beide sind unbescholtene Beamte. K. sagt, er habe sich auf seinen ranghöheren Kollegen verlassen, konnte sich nicht vorstellen, dass der einen ganzen Zug vergisst. K. wird am Ende freigesprochen.

Alfred M. wird in seinem Leben nie wieder glücklich

Alfred M., der Fahrdienstleiter, am Prozesstag. Mit seiner Aktentasche verdeckt er sein Gesicht. dpa
Angeklagter
Alfred M., der Fahrdienstleiter, am Prozesstag. Mit seiner Aktentasche verdeckt er sein Gesicht.

Das Urteil für Alfred M.: ein Jahr Gefängnis auf Bewährung. Der Vater einer Tochter und eines Sohnes wird nie wieder glücklich in seinem Leben. Frühere Kollegen erzählen, dass er stundenlang geistesabwesend vor sich hingestarrt habe. M. lebt fortan zurückgezogen in Altona, kapselt sich ab und stirbt 1985 im Alter von 82 Jahren.

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