Suff, Live-Sex und Romantik: So wild war der Kiez in den 80ern
Man muss schon genauer hinschauen, um die Linse zu entdecken. Das Jackett ist leicht geöffnet. Die Hände stecken in den Taschen. Zwischen Rumpf und Ärmel hat Enno Kaufhold eine Konica ins Futter eingearbeitet. Die Kamera, die er in der Szene für ein Selbstporträt nutzt, soll nicht auffallen. Er will es erst recht nicht. Die Leute sollen ihn möglichst nicht bemerken, damit er sie wiederum besser beobachten und heimlich fotografieren kann. In dieser Szene knipst er sich selbst, gespiegelt in einer Tür vor dem legendären „Safari“. Der Mann studiert an der Uni Hamburg Kunstgeschichte und Soziologie. Er ist begeistert von der Fotografie – und St. Pauli. Hier will er das echte Leben dokumentieren. Zehn Jahre geht das so. Kaufhold streunt durch das Viertel, seine Kamera immer mit dabei. Rotlicht und Romantik, Suff und Solidarität. 1975 fängt er damit an. Mehr als vier Jahrzehnte später hat der Hamburger Junius-Verlag seine Aufnahmen nun in einem Bildband veröffentlicht. Es ist ein Stück Zeitgeschichte in etwa 500 Fotos. Und es ist ein drastischer Blick auf den Kiez, wie man ihn selten gesehen hat.
Ihn würde interessieren, wie die Bilder auf den Autor des Textes wirken, lässt Kaufhold vor dem Gespräch wissen. Er wünsche sich kein klassisches Interview, sondern einen Austausch. Nun lässt sich die Wirkung seiner Bildsammlung kaum mit wenigen Worten beschreiben. Das Buch ist eine Komposition aus eher belanglosen Aufnahmen, die mal die Große Elbstraße oder herumlungernde Menschen am Hans-Albers-Platz zeigen, aber auch expliziten Fotos wie die einer volltrunkenen Frau, die sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Ein mutmaßlich Obdachloser stützt sie und bewahrt sie so vor einem Sturz. Neben den beiden liegt ein weiterer Mann auf dem Bürgersteig und schläft seinen Rausch aus. Kaufhold steht direkt bei ihnen und fotografiert sie. Versteckt. Einen ganzen Film verknipst er für die Szene.
St. Pauli-Fotograf interessiert sich für das wahre Kiez-Leben
Enno Kaufhold, Jahrgang 44, ist ein Nordlicht, stammt aus dem Oldenburger Land. Bevor er 1967 nach Hamburg zog, machte er eine Lehre zum Metallflugzeugbauer, ging zum Bund, arbeitete als Maschinenschlosser und fuhr für drei Monate zur See. In der Hansestadt aber fand er seine Bestimmung: die Fotografie. Erst holte er am Hansa-Kolleg das Abitur nach, es folgte das bereits erwähnte Studium. Kaufhold machte sich einen Namen in Hamburg, arbeitete u. a. mit Fotografen-Ikone F. C. Gundlach zusammen, zog irgendwann nach New York und weiter nach Berlin. Dort lebt er bis heute und lehrt an einer privaten Schule für Fotografie.
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Kaufhold ist neugierig, ein „Voyeur im positiven Sinne“, wie der bekannte St. Pauli-Fotograf Günter Zint über ihn sagt. Und doch sind die Bilder in ihrer Klarheit krass. Er wolle die Menschen jedoch nicht vorführen, sagt Kaufhold. Darauf besteht der heute 77-Jährige. „Das Elend gibt es. Ich möchte das echte Leben zeigen“, sagt er. Ein schlechtes Gewissen habe er nie gehabt. „Ich habe an Orten fotografiert, an denen jeder sein konnte“, sagt der Fotograf, „habe nie Privatbereich betreten.“
St. Pauli in den 70ern und 80ern – das sind Männer in Maßanzügen, selbst ernannte Kiez-Könige, Zuhälter, Konkurrenten, Verbrecher. Banden bekriegen sich, Auftragsmorde werden verübt, irgendwann kommt das Kokain dazu – und verschärft die Situation. In dieser Zeit ist Kaufhold unterwegs. Ihn interessieren die harten Kerle allerdings nicht so wirklich. Er will die Leute zeigen, die bei der damaligen Betrachtung von St. Pauli eher übersehen werden.
Live-Sex, Alkohol, kurze Röcke: Die Reeperbahn war mehr als nur Rotlicht
Entstanden sind dabei Aufnahmen von Prostituierten, die um Freier werben. Von Männern mit offenen Hemden, die ihre Wampe über die Reeperbahn spazieren tragen, von Frauen mit kurzen Röcken und tiefen Ausschnitten, von Live-Sex auf der Bühne einer Peep-Show. Es sind Fotos von Verwahrlosung und Sehnsüchten, Trunkenbolden, Bettlern und Hausfrauen mit Zigarette im Mundwinkel. Kaufhold hat die verlorenen Blicke von Gästen in den Kaschemmen des Viertels eingefangen, derer, die selbst in der Gruppe einsam wirken, im „Elbschlosskeller“, „Zum Goldenen Handschuh“, in der „Gaststätte Fick“ am Fischmarkt ist er dafür gewesen. Er hat spielende Kinder fotografiert, die Neugierigen in der Herbertstraße, fummelnde Typen und Menschen, die in ihrem Erbrochenen liegen. Oder zumindest knapp daneben.
Selbst Hamburger und Hamburgerinnen, die glauben, viel über St. Pauli zu wissen oder von dem Stadtteil gesehen zu haben, werden von der Bandbreite des dokumentierten Elends vermutlich nicht unberührt bleiben. Teilweise sind die Bilder beklemmend wie die der vielen Frauen, die anschaffen gehen, oder der zahlreichen Bedauernswerten, die schon tagsüber sichtbar einen ungesunden Pegel haben. Andere Fotos sind in ihrer Authentizität berückend wie das des Obdachlosen, der erkennbar keine Zähne mehr hat und mit nackten Füßen auf der Motorhaube eines Peterwagens vor der Davidwache sitzt. Die Schuhe samt Bierpullen hat er so vor dem Auto drapiert, als gehörten sie dorthin.
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Günter Zint sagt über das Buch: „Enno hat als stiller Beobachter mit einem guten Blick ein wirklich authentisches Bild geschaffen.“ Es sei eines der wenigen Bücher, die der Wahrheit nahekommen würden. Für Zint hat Kaufhold bei seinen Streifzügen „ganz intime und historisch wichtige Aufnahmen gemacht“. Ob das die Menschen, die er dabei ungefragt aufgenommen hat, auch so euphorisch sehen, ist fraglich. Das Ziel, einen Einblick in das wahre Leben zu zeigen, hat er aber erreicht – jedenfalls für St. Pauli bis Mitte der 80er.
Vom 25.11. bis 20. Januar stellt Enno Kaufhold seine Werke bei „Freelens“ (Alter Steinweg 15) aus