UKE-Mediziner: „Es wird eine Welle weiterer Toter auf uns zukommen“
565 Neuinfektionen und eine Inzidenz von 209,2. Auch in Hamburg kennt die Corona-Kurve nur noch eine Richtung: nach oben. Was kommt auf uns in Hamburg noch zu, was belastetet die Mediziner und Pflegenden und reichen die Maßnahmen der Ministerpräsidenten, um die vierte Welle zu brechen? Darüber hat die MOPO mit dem Chef der Intensivmedizin des UKE, Stefan Kluge, gesprochen.
MOPO: Vor einigen Tagen haben Sie vor einer „latenten Triage“ gewarnt. Ist die in Hamburg schon Realität?
Stefan Kluge: Nein, hier im Norden ist die Lage noch gut beherrschbar. In Sachsen, Thüringen oder Bayern etwa müssen aber viele Operationen verschoben werden und die Notfallversorgung ist eingeschränkt. Und auch hier in Hamburg spüren wir den deutschlandweiten Personalmangel und viele Krankmeldungen. Wir arbeiten ziemlich am Limit.
Stefan Kluge: Sinken Zahlen nicht, ist Lockdown unausweichlich
Am Donnerstag haben die Ministerpräsidenten die Hospitalisierungsquote als entscheidenden Faktor festgelegt, 2G und 2G Plus soll ab festgelegten Werten gelten. Reicht das, um die Welle zu brechen?
Das ist schwer abzuschätzen. Das Problem ist, dass die Hospitalisierungsrate kein Frühwarn-System ist, sondern ein Blick in die Vergangenheit. Deshalb sollte man die Neuinfektionen weiterhin sehr genau im Auge behalten. Ich bin auch skeptisch, ob 2G ausreicht. Wir haben jetzt eine sehr große vierte Welle, die wir viel schneller brechen müssen.
Das heißt, wir brauchen einen Lockdown?
Das wäre sicherlich die effektivste Maßnahme, wird aber wohl von der Gesellschaft aktuell noch nicht akzeptiert. Aber eins muss allen klar sein: Wenn wir alle gemeinsam die hohen Zahlen nicht bremsen, ist ein Lockdown unausweichlich. Wir müssen nur nach Österreich schauen, wo gerade einer angekündigt wurde. Wir sind in einer sehr kritischen Phase.
Mehr Samstag. Mehr Sonntag. Mehr MOPO!
Unsere extra-dicke MOPO AM WOCHENENDE hat es in sich: Auf 64 Seiten gibt’s aktuelle News, packende Reportagen, spannende Geschichten über Hamburgs unbekannte Orte und die bewegte Historie unserer Stadt, die besten Ausgehtipps für’s Wochenende, jede Menge Rätsel und vieles mehr. Die MOPO AM WOCHENENDE: Jeden Samstag und Sonntag für Sie am Kiosk – oder ganz bequem im Abo unter MOPO.de/abo
Und doch fühlen sich viele Menschen wegen ihrer Impfung noch sicher, aber auch sie können das Virus ja weitergeben. Sind wir alle zu sorglos?
Ja, absolut. Wir sind alle Pandemie-müde, und ich mache mir Sorgen, dass viele nicht begreifen, wie kritisch die Lage für das Gesundheitssystem ist. Diskussionen über einen „Freedom Day“ oder Leute, die in der Öffentlichkeit sagen, dass die Krankenhäuser nicht stark belastet werden – all das hilft uns überhaupt nicht weiter. Wir müssen uns jetzt wirklich noch einmal zusammenreißen. Aber aktuell klappt das leider sehr schlecht.
Die meisten Covid-19-Patient:innen auf den Intensivstationen sind ungeimpft. Warum?
Wir fragen das die Patientinnen und Patienten, aber in so einer Notsituation auf der Intensivstation kann man das Thema nicht diskutieren. Viele haben Angst vor obskuren Nebenwirkungen oder dass die Impfstoffe noch nicht ausreichend erprobt sind. Knapp die Hälfte waren aber einfach zu träge, einen Termin zu machen, oder sagen, sie haben kein Impfangebot bekommen. Zudem spricht eine relevante Anzahl unserer Patientinnen und Patienten kein Deutsch und wird daher von den deutschsprachigen Impfangeboten nicht erreicht. Deshalb glaube ich, dass wir mit einer intensivieren Impfkampagne noch mehr erreichen können.
Das könnte Sie auch interessieren: Hamburg greif härter durch bei 2G: Das droht Regelbrechern
Brauchen wir eine Impfpflicht?
Eins steht fest: Wenn wir eine Impfpflicht hätten, hätten wir in den kommenden Monaten deutlich weniger Probleme. Wir hatten schon einmal eine Impfpflicht gegen die Pocken, die Pocken sind heute ausgerottet. Umsetzbar wäre eine Impfpflicht. Ob sie akzeptiert werden würde, ist eine andere Frage.
Ungeimpfte auf der Intensivstation: Wie Motorradfahrer ohne Helm
Sind Sie wütend auf Ungeimpfte in den Intensivstationen?
Wir versorgen sie mit der gleichen Professionalität wie alle anderen Patientinnen und Patienten. Aber es frustriert unheimlich, nicht mehr helfen zu können. Wir haben gerade einen jungen Mann an die künstliche Lunge genommen. Er ist nicht geimpft, aber Risikopatient. Er hat leider eine hohe Wahrscheinlichkeit zu sterben und das wäre vermeidbar gewesen. Die Angehörigen leiden, unsere Mitarbeitenden belastet das extrem. Es fühlt sich an, als ob Sie jeden Tag zehn Motorradfahrer behandeln, die bei Tempo 200 ohne Helm über die Autobahn gerast sind.
Der RKI-Chef, Lothar Wieler, hat mit einer Todesrate von 0,8 Prozent der gemeldeten Covid-Erkrankten extrem hohe Todeszahlen für Deutschland vorhergesagt. Sehen Sie das auch so?
Ja, absolut. Und deshalb sind wir ja so frustriert. Diese Zahlen sind schon seit Monaten bekannt, aber keiner scheint sie richtig wahrzunehmen. Es wird eine Welle weiterer Corona-Toten auf uns zukommen, das ist glasklar. Auch hier in Hamburg.
Wie bereiten Sie sich vor?
Wir haben die Notfallpläne wieder rausgeholt. Jetzt überlegen wir, welche Kolleginnen und Kollegen wir bitten können, ein viertes Mal auf der Intensivstation zu arbeiten, damit wir mehr Betten betreiben können. Das wird mit jeder Welle schwerer. Wir planen auch, welche Operationen wir absagen können. Da das UKE recht voll ist, schauen wir aber von Tag und Tag, wie wir die Situation weiterhin bestmöglich beherrschen können. Da ist auch die Kooperation mit anderen Krankenhäusern und der Behörde wichtig.
Und wie schlimm wird Weihnachten?
Seriös kann man nur die nächsten vier Wochen vorhersagen, darüber hinaus weiß es niemand. Es kommt auf die Maßnahmen an und darauf, wie sich die Menschen jetzt verhalten. Aber besser wird die Lage frühestens im neuen Jahr. Die nächsten zwei bis drei Monate werden hart.