Echte Männerfreundschaft: Sigmund Freud und sein Hamburger Fotograf
Es kann gut sein, dass Sie Besitzer eines fotografischen Schatzes sind, ohne es zu wissen. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, mal in den Keller hinabzusteigen oder auf den Dachboden zu gehen und die alten Fotoalben von anno dazumal rauszusuchen. Nicht auszuschließen, dass sich Ihre Ur- oder Ururgroßeltern den Luxus geleistet haben, das Fotoatelier von Max Halberstadt zu besuchen. Vielleicht sind ja noch Bilder erhalten. Das wäre eine kleine Sensation!
Vor allem er würde sich über solche Funde freuen: Wilfried Weinke. Der 66-jährige Hamburger Literaturwissenschaftler und Publizist hat es sich zur Aufgabe gemacht, Halberstadt vor dem endgültigen Vergessen zu bewahren. Im Museum für Hamburgische Geschichte läuft noch bis zum 3. Januar eine absolut sehenswerte Ausstellung über Leben und Werk des jüdischen Fotografen: Weinke hat sie gemeinsam mit dem Gestalter Uwe Franzen konzipiert – es ist eine der besten historischen Ausstellungen in Hamburg seit Jahren.
Wir schreiben das Jahr 1909. Halberstadt ist 27 und hat zwei Jahre zuvor sein Fotoatelier am Neuen Wall eröffnet. Da schellt eines schönen Septembertages die Glocke an der Eingangstür. Ob Halberstadt den Mann, der im Türrahmen steht, sofort erkennt? Und ob ihm gleich klar ist, was für eine Berühmtheit er da vor die Linse bekommt? Wir wissen es nicht.
Im Hamburger Fotoatelier entstehen Aufnahmen, die Geschichte schreiben
Jedenfalls entstehen bei diesem Besuch Fotos, die Geschichte schreiben. Die Bilder des bärtigen Mannes im grauen Anzug mit ernstem, distanziertem Blick, der in der Hand eine Zigarre hält, kennt jeder. Immer wenn ein Buch oder ein Artikel über Sigmund Freud publiziert wird, den Gründer der Psychoanalyse, wird zur Illustration ein Foto aus dieser Serie abgedruckt.
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Wie es kommt, dass ein Hamburger zum Haus- und Hoffotografen Freuds wird? Nun, Martha, die Ehefrau des berühmten Wieners, stammt aus Wandsbek, und um Verwandtschaft zu besuchen, hält sich das Paar des Öfteren in Hamburg auf. Dabei muss der weltberühmte Psychiater wohl davon gehört haben, dass ein gewisser Halberstadt der beste Porträtfotograf weit und breit sei. Oder aber Sigmund Freud ist beim Bummeln durch die Hamburger City zufällig über Halberstadts Werbeschild gestolpert. Auch das ist möglich.
Eine schicksalhafte Begegnung ist es in jedem Fall. Freud findet großen Gefallen an dem jungen Lichtbildner. Erst recht aber seine jüngste Tochter. 1913 heiratet Max Halberstadt – er ist 35 – die 19-jährige Sophie. Im Jahr darauf kommt Sohn Ernst Wolfgang zur Welt. Schließlich wird 1918 – Halberstadt ist gerade als Soldat an der Front – Heinz Rudolf geboren, genannt „Heinele“.
Halberstadt heiratet die Tochter von Sigmund Freud
Die Beziehung zwischen Schwiegervater und Schwiegersohn ist ausgesprochen gut. Freud nennt Halberstadt „einen besonders feinen und ernsthaften Menschen“. Während er seine ersten Briefe an den Schwiegersohn noch mit „Sehr geehrter Herr …“ einleitet, schreibt er später ganz vertraut „Lieber Max“ und schließt jedes Mal mit einem liebevollen „Papa“.
Selbst nach dem frühen Tod von Sophie Halberstadt im Jahr 1920 bleibt der Kontakt zwischen den Männern eng. Als 1923 Heinele in Wien an Tuberkulose stirbt, schreibt Freud an seinen Schwiegersohn: „Ich habe hier einige der schwärzesten Tage meines Lebens in Trauer um das Kind verbracht. Endlich habe ich mich aufgerafft und kann jetzt ruhig an ihn denken und ohne Tränen von ihm reden.“
Beruflich geht es bei Halberstadt aufwärts. Im Sommer 1919 zählt er zu den Gründungsmitgliedern der „Gesellschaft Deutscher Lichtbildner“. Eine besonders große Ehre wird ihm zuteil, als die Hamburger Zeitschrift „Photofreund“ im November 1920 ein ganzes Sonderheft allein seiner Arbeit widmet.
Herausragend sind Halberstadts Porträt- und Kinderaufnahmen. Sie wirken – das ist ungewöhnlich für die Zeit – sehr natürlich. Bald gehört es unter wohlhabenden Hamburgern zum guten Ton, den Nachwuchs von Halberstadt fotografieren zu lassen. Auch Oberrabbiner Joseph Carlebach schickt seine neun Kinder in das Atelier des berühmten Fotografen. Es entsteht eins der letzten Bilder, auf denen alle gemeinsam zu sehen sind. Drei der Kinder, die Töchter Ruth, Noemi und Sara, werden 1942 zusammen mit den Eltern in Riga von Nazis ermordet.
Auch Joseph Carlebachs sieben Kinder hat Halberstadt porträtiert
Halberstadt ist ein erfolgreicher Werbefotograf: Darboven, Reemtsma und Dralle zählen zu den Kunden. Gutes Geld verdient er mit seinen „Heim- und Haus-Aufnahmen“: Reiche Hamburger engagieren ihn, damit er ihre Villen fotografiert, drinnen wie von außen. Dank dieser Fotos ist überliefert, wie prunkvoll es bei den Reedern und Kaufleuten daheim damals so zuging.
Die schönsten Fotos Halberstadts sind jedoch die, die Hamburg zeigen, wie es vor der Zerstörung des Zweiten Weltkrieges aussieht. Mit Vergnügen streift Halberstadt über den Altonaer Fischmarkt, fotografiert die Markthändler in Aktion. Stimmungsvoll sind seine Hafenbilder, sind die Fotos von den Landungsbrücken und vom Schiffsverkehr auf der Elbe.
Im November 1923 heiratet Halberstadt erneut: Bertha Katzenstein heißt seine zweite Frau, ebenfalls eine Jüdin. Zwei Jahre später kommt Tochter Eva zur Welt. Nur wenige glückliche Jahre sind der Familie vergönnt. Als 1933 die Nazis an die Macht kommen, geht es rapide bergab – wirtschaftlich und auch sonst. Firmen stornieren ihre Aufträge, immer weniger Menschen kommen, um sich fotografieren zu lassen. Weil er sich seine Wohnung nicht mehr leisten kann, zieht Halberstadt mit seiner Familie ins Atelier.
1936 emigriert Max Halberstadt mit Familie nach Südafrika
Er erkennt früh, dass es in Deutschland keine Zukunft mehr für ihn gibt. Im April 1936 emigriert er über Rotterdam, Antwerpen und Dakar nach Johannesburg, arbeitet dort zunächst für ein Reklame-Atelier, bevor er 1938 sein eigenes Fotostudio eröffnet. An seine alten Erfolge kann er aber nicht mehr anknüpfen.
Die Verfolgung durch die Nazis, die Vernichtung seiner wirtschaftlichen Existenz und der schwierige Neuanfang in Südafrika – all das setzt seiner Gesundheit zu. Er stirbt am 30. Dezember 1940 im Alter von 58 Jahren.
Daheim in Hamburg gerät der einst berühmteste Porträtfotograf der Stadt in Vergessenheit. Dafür sorgen die Nazis. Und es gibt nach 1945 Menschen, die aktiv daran arbeiten, dass das auch so bleibt: beispielsweise Fritz Kempe, einst NS-Propagandafotograf, der es nach dem Krieg zum Leiter der Staatlichen Landesbildstelle bringt. Als er ein Buch zur Geschichte der Fotografie in Hamburg verfasst, unterschlägt er Halberstadt einfach.
Es ist ein großer Zufall, dass diesem Künstler nun doch noch – sehr spät – eine Würdigung zuteil wird. Wie es dazu gekommen ist, das schildert Wilfried Weinke so: Alles habe mit einem Fax begonnen, das er 1999 aus Südafrika erhielt. „Damals suchte ich für eine Ausstellung nach Fotografen jüdischer Herkunft. Daraufhin meldete sich bei mir die Tochter von Max Halberstadt, die mir auch direkt eine Fotografie ihres Vaters zuschickte – ein Porträt von Sigmund Freud. Ich war völlig von den Socken. Ich hatte ja keine Ahnung. Und ich begann zu recherchieren.“
Halberstadts Nachlass besteht aus 97 Glasnegativen, 160 Abzügen und 27 Rollfilmen
Weinke, ein „Jäger und Sammler“, durchforstete Archive, Bibliotheken, Antiquariate und Fachzeitschriften und trug in jahrelanger detektivischer Kleinstarbeit alles zusammen, was von Halberstadt noch erhalten ist: 97 Glasnegative, 160 Fotoabzüge und 27 Rollfilme. Außerdem einige Akten, dazu einige Auszeichnungen, die Halberstadt verliehen wurden, und – das ist der Clou – seine Leica-Kamera.
Seit die Ausstellung läuft, bekommt Weinke Post aus der ganzen Welt: Häufig sind es Juden, deren Vorfahren emigrierten und die nun ihre alten Familienalben durchgehen – und siehe da: Etliche bislang unbekannte Halberstadt-Aufnahmen tauchen mit einem Mal auf. So wird die Sammlung immer größer.
Das gibt es nicht alle Tage: ein MOPO-Artikel ausgestellt im Museum
In einem Fall ist daran sogar die MOPO „schuld“. In der Serie „Der Tag, an dem …“ berichteten wir im September 2020 über Kenneth Hale aus New York, der als Klaus Heilbut in Hamburg geboren wurde und kurz nach der Pogromnacht 1938 mit seiner Mutter und seinem Bruder aus Deutschland floh. Im Mai 2021 starb Kenneth Hale im Alter von 99 Jahren – und im Nachlass fand Sohn Kevin (60) Kinderfotos, die – ja, Sie werden es schon ahnen – von Max Halberstadt stammen.
Nun sind nicht nur diese alten Aufnahmen Teil der Ausstellung – der MOPO-Artikel mit der Lebensgeschichte von Klaus Heilbut alias Kenneth Hale liegt in derselben Vitrine. Kevin Hale war total gerührt, als er vor wenigen Tagen in Hamburg zu Gast war und die Ausstellung besuchte.
Und so erfährt nicht nur der Fotograf posthum eine Würdigung – einer seiner Porträtierten ebenfalls.