„Kollektive Überforderung“: Warum wir alle gereizt sind – und wie wir da rauskommen
Ist ein Gespräch ohne das Thema Corona überhaupt noch möglich? Seit Monaten bestimmt die Pandemie unser Leben. Arbeit, Schule, Privatleben – kaum ein Bereich ist nicht durch das Virus beeinflusst.
Trotzdem ist es wichtig, auch andere Konversationsinhalte zu haben, sagt Dr. Mirriam Prieß, promovierte Ärztin, Buchautorin und Coach für Stress- und Konfliktmanagement. Im März erschien dazu das neue Buch der 48-Jährigen „Die Kraft des Dialogs“.
Frau Dr. Prieß, egal wohin man zurzeit geht, alles dreht sich sofort um das Thema Corona. Davon sind viele Menschen genervt. Wie kann man es schaffen, dass die Corona-Pandemie nicht in jeden Dialog mit einfließt?
Prieß: Erst einmal ist es verständlich, dass viel über die Pandemie gesprochen wird. Das ist ein Ausdruck dafür, dass die Situation für viele Menschen nicht zu verdauen ist – ein Versuch der Bewältigung. Viele sind überlastet und mit den Kräften am Ende. Momentan sehe ich das in einer Form, wie ich es in der Breite und an Intensität als Ärztin noch nicht erlebt habe.
Gefahr in der Corona-Krise: Abrutschen in eine Negativspirale
Wie gefährlich ist dieser Zustand?
Die Gefahr in so einer kollektiven Überforderung ist, dass wir uns nur noch auf die Dinge konzentrieren, für die es keine Lösung gibt und so in eine Negativspirale kommen. Um dies zu verhindern, gilt es, sich in den Gesprächen bewusst zu machen, dass das Leben nicht nur aus Corona besteht.
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Wichtig ist, zu differenzieren: Befinde ich mich in einer Klageschleife oder geht es um eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Situation?
Das Thema Corona sorgt schnell für Streitereien und Spaltungen in der eigenen Familie oder im Bekanntenkreis. Warum haben wir zurzeit so eine dünne Zündschnur?
Eine Krise legt immer den Finger in die Wunde. Das heißt, in der Krise werden Schwachstellen deutlich, die vorher in der Normalität kompensiert worden sind. Das sehen sie zurzeit im Gesellschaftssystem, aber auch im privatem System, den Beziehungen. Die meisten Menschen sind momentan kräftemäßig über dem Limit, dann ist die Frustrationsschwelle gleich null und man bewertet die Aussagen von anderen Personen viel negativer als sonst. Eine andere Haltung wird dann schon als Angriff und Bedrohung für die eigene Situation beziehungsweise auf Person gesehen.
Wie kann man diesen Bruch vermeiden?
Indem wir uns für den Dialog entscheiden. Dazu gehören drei wesentliche Aspekte. Wenn diese eingehalten werden, dann können sie nicht nur Spaltungen verhindern, sondern auch überwinden.
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Können Sie das konkretisieren?
Damit eine Beziehung gelingt, muss man immer gucken, dass das „Ich“, „Du“, und „Wir“ zu gleichen Teilen vorkommt. Das ist der erste Aspekt. Die meisten Beziehungen scheitern in der Krise, weil sich jeder nur noch auf sein „Ich“ zurückzieht, kämpft und verteidigt. Den anderen und das „Wir“ im Blick zu behalten, stärkt die Beziehung und am Ende auch das eigene Ich. Der zweite Aspekt besteht darin, auf ein Gleichgewicht von Geben und Nehmen zu achten. Das bezieht sich nicht nur auf die Handlung, sondern auch auf die Worte. Und das Entscheidende ist der dritte Aspekt: Die Atmosphäre der Beziehung. Eine gute Atmosphäre ist gekennzeichnet von Interesse an der anderen Person und von Offenheit.
Im Moment ist die Atmosphäre vielerorts vergiftet, das Interesse nimmt ab und ein Panzer wird aufgebaut. Für Entlastung sorgt die Bereitschaft, auch mal die eigene Welt zu verlassen, andere Perspektiven einzunehmen und sich in das Gegenüber einzufühlen. Mitgefühl, Augenhöhe und Respekt sind entscheidende Punkte für eine gute Atmosphäre und ein starkes Miteinander.
Klingt nicht einfach! Warum ist ein Gespräch auf Augenhöhe so wichtig in dieser Zeit?
Augenhöhe beschreibt nichts anderes als Menschen wie Situationen gradlinig zu begegnen, anstatt sie abzuwerten, herunterzuspielen oder zu überhöhen. Das erfordert unter anderem Respekt und Wertschätzung. Auf ein Gespräch bezogen bedeutet dies, dass ich andere Meinungen respektiere, ohne sie unbedingt gutzuheißen. Je mehr Augenhöhe und Respekt verloren gehen, umso mehr schwächen wir uns selbst wie auch unsere Beziehungen. Wenn wir jedoch beginnen, unsere Haltung im Sinne eines Dialogs zu verändern, dann sind wir nicht mehr im ständigen Kampf, sondern suchen in der Verschiedenheit genügend Gemeinsamkeit und bewältigen diese Situation gemeinsam.
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Was kann ich tun, um eine Freundschaft oder Beziehung trotz Pandemie aufrecht zu erhalten und sie zu stärken?
In dieser Zeit gibt es trotz Pandemie viele Möglichkeiten, eine Beziehung abwechslungsreich zu gestalten. Viele erleben Entlastung, wenn gemeinsam aktiv neue Dinge gestaltet werden. Sei es, dass man gemeinsam einen Online-Kurs besucht oder ein Buch liest, um im Nachhinein darüber zu sprechen. Man kann auch gemeinsam Sport machen. Wichtig ist, einen neuen Bereich zu ergründen und das in die Beziehung mit einzubringen.