33 Tage Leid unter Drach : Die Reemtsma-Entführung – und welche Rolle die MOPO spielte
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Thomas Drach eilte der Ruf voraus, ein „Superhirn“ zu sein. Intelligent, umsichtig, planvoll. Mit der Entführung Jan Philipp Reemtsmas vor 25 Jahren, so waren Beobachter lange überzeugt, sei ihm das perfekte Verbrechen gelungen. Heute wissen wir: Nicht Intelligenz, sondern Dreistigkeit und Selbstüberschätzung zeichnen Drach aus. Er ist ein ganz gewöhnlicher Verbrecher. Einer, der stets nach dem Motto handelt: „Brauch‘ ich Geld, dann nehme ich es mir!“
Drach, der aus der Nähe von Köln stammt, wird als 13-Jähriger von der Polizei aufgegriffen, nachdem er Autos geknackt hat. Das Gymnasium muss er wegen schlechter Leistungen verlassen, eine Lehre als Kfz-Mechaniker bricht er ab.
Thomas Drach wird schon als 13-Jähriger kriminell
Mit 18 überfällt er einen Supermarkt. Mit 20 raubt er auf spektakuläre Art eine Kölner Sparkasse aus: Er rast mit dem Auto durch die Glasfront und richtet ein Schrotgewehr auf die Mitarbeiter.
1996 dreht er sein ganz großes Ding: die Entführung des Hamburger Multimillionärs Jan Philipp Reemtsma. Es handelt sich um einen der spektakulärsten Kriminalfälle der Nachkriegsgeschichte.
33 Tage wird der Erbe des Hamburger Tabakimperiums in einem Keller angekettet festgehalten und erst gegen Zahlung von 30 Millionen Mark freigelassen. Das höchste Lösegeld, das je gezahlt wurde.
Die Geschichte beginnt am Abend des 25. März 1996. Es ist etwa 20.30 Uhr. Jan Philipp Reemtsma – promovierter Literaturwissenschaftler, Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung und ein Eigenbrötler – will ganz früh zu Bett gehen. Er hat eine Flasche Rotwein getrunken, um sich, wie er später schreibt, die nötige Bettschwere zu verschaffen. Ein Buch möchte er sich noch holen, und dazu verlässt er sein Wohnhaus in Blankenese und geht zu seinem nur rund 50 Meter entfernten „Arbeitshaus“, wo sich die Bibliothek befindet.
„Das Einschalten von Presse und Polizei bedeutet den Tod“
Einige Zeit später, als sie bemerkt, dass er nicht zurückgekommen ist, sieht Ann Kathrin Scheerer, seine Ehefrau, nach dem Rechten. Sie erschrickt, als sie Blutflecken entdeckt. Die Statue vorm Eingang ist umgekippt.
Schließlich findet sie in einer Klarsichtfolie ein Schreiben. Es ist beschwert mit einer Handgranate: „Wir fordern ein Lösegeld von 20 Millionen D-Mark“, steht da. „Das Einschalten von Presse und Polizei bedeutet den Tod.“
Die Entführer lassen eine scharfe Handgranate zurück
In seinem Buch „Im Keller“ beschreibt Reemtsma, wie die Entführung ablief: Dass er kurz vor der Eingangstür ein Rascheln im Rhododendronbusch gehört und noch gedacht habe, das Geräusch sei zu laut für eine Katze oder einen Vogel. Im nächsten Moment steht der erste Entführer vor ihm. Es kommt zum Kampf. Reemtsma versucht dem Mann seine Daumen in die Augen zu rammen. Doch dann schlägt ein zweiter Entführer Reemtsmas Kopf gegen eine Mauer. Eine gebrochene Nase und kaputte Zähne sind das Resultat.
Für die nächsten viereinhalb Wochen haust der Entführte in einem Keller. Er hat strikte Anweisungen: Wenn es an der Tür klopft, soll er seinen Kopf auf die Matratzen drücken, damit er niemanden erkennt. Nur einer der Entführer sucht ihn in diesem Verlies auf – Reemtsma nennt ihn den „Engländer“, weil er ausschließlich in akzentfreiem Englisch zu ihm spricht. Heute wissen wir: Es ist Thomas Drach.
Nur der „Engländer“ besucht Reemtsma im Keller
Für Reemtsma sind die Gespräche mit dem „Engländer“ eine „Oase in der Eintönigkeit“. Später ärgert sich Reemtsma über diese Gefühle, aber, ja, er sei dem Entführer regelrecht dankbar, als der ihm Bücher bringt: John le Carrés „Die Libelle“ etwa und Tom Wolfes „Fegefeuer der Eitelkeiten“.
Reemtsma schreibt, dass es Momente gibt, in denen er sich wünscht, der „Engländer“ würde ihn trösten, ihm die Hand auf die Schulter legen. Das Verhältnis zum Entführer habe zeitweise etwas Kumpel-, fast Kumpanenhaftes. Phänomene, für die es einen Namen gibt: Stockholm-Syndrom.
Seine erste Woche im Keller marschiert Reemtsma nur auf und ab – so weit es die Kette an seinem Fuß zulässt. Drei Schritte hin, drei Schritte her. An dem einen Tag kommt er auf 15.000, am anderen auf 18.000 Schritte. „Sein Gehen bekam bald manische Züge. Es war das Einzige, was er ,machen‘ konnte“, heißt es in Reemtsmas Buch, das in der dritten Person geschrieben ist.
„Johann, wir müssen jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen“
Trotz der Drohungen der Entführer informiert Ann Kathrin Scheerer die Polizei. Ihr Sohn Johann ist 13. Jahrzehnte später schreibt er in seinem Buch „Wir sind dann wohl die Angehörigen“, wie seine Mutter ihm beizubringen versucht, dass der Vater entführt ist: „Johann, ich muss dir etwas sagen. Wir müssen jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen.“
Für den ersten Gedanken, der ihm in diesem Moment durch den Kopf schießt, schämt der Junge sich gleich darauf: dass er jetzt wohl erst mal nicht in die Schule muss und ihm deshalb die verhasste Lateinklausur erspart bleibt …
Reemtsmas Sohn glaubt nicht daran, den Vater wiederzusehen
Der Junge ist sicher, dass er seinen Vater nie wiedersehen wird. Werden Entführte nicht immer erschossen? Er fällt in ein tiefes Loch. Die Schule besucht er nicht mehr. Er ist krankgemeldet. Nur ein einziger enger Freund darf ihn besuchen.
Johann Scheerer schreibt: „Ich zwang die Tränen zurück, presste die Lippen aufeinander, versuchte nicht daran zu denken, wie sehr ich meinen Vater vermisste.“
Über MOPO-Grußannoncen hält die Familie Kontakt mit den Entführern
Das erste Lebenszeichen Reemtsmas schicken die Täter zwei Tage nach der Entführung mit der Post: ein Foto. Reemtsma, sitzend auf einem Stuhl, bekleidet mit einem Trainingsanzug, in der Hand eine Tageszeitung. Jemand hält eine Kalaschnikow ins Bild. Das Foto weckt Erinnerungen: Von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer hat die RAF eine ähnliche Aufnahme gemacht, kurz vor dessen Ermordung.
Anweisungen für eine Geldübergabe enthält der Brief nicht. Stattdessen wird die Familie aufgefordert, Grußannoncen in der MOPO zu schalten. Die erste erscheint am 28. März. „Alles Gute. Ann Kathrin. Melde dich mal persönlich.“ Daneben eine Fax-Nummer für weitere Anweisungen. Was so viel heißen soll wie: „Wir sind bereit zu zahlen.“
Von jetzt an verwendet die Familie bzw. die Polizei fast täglich den Weg über die Grußanzeigen, um sich an die Entführer zu wenden. Alle Annoncen beginnen mit „Alles Gute. Ann Kathrin.“ Dann folgt die jeweilige Nachricht: „Ich hoffe, Du meldest Dich bald.“ Oder: „Ich mach doch alles, was Du willst. Was ist los? Wir wollen doch beide das Gleiche – möglichst schnell. Melde dich.“
Anwalt Johann Schwenn versucht zweimal das Geld zu überbringen
Endlich, am 3. April um 2.45 Uhr, ruft einer der Entführer an. Seine Stimme wird von einem Verzerrer verfremdet. Kurz darauf soll die Geldübergabe stattfinden, aber sie scheitert: Reemtsmas Ehefrau und der als Geldbote vorgesehene Anwalt Johann Schwenn, ein Freund des Entführten, kommen zu spät, weil der Volvo, den sie benutzen sollen, nicht zur Verfügung steht, sondern erst bei der Polizei abgeholt werden muss. Als Scheerer und Schwenn durch den Elbtunnel fahren und an der Autobahn nach einem Blinklicht Ausschau halten, ist da keins mehr.
„Sie sahen kein Blinklicht“, schreibt Reemtsmas Sohn in seinem Buch. „Es gab keins. Sie fuhren weiter Richtung Maschen. Beim Schild angekommen, stieg meine Mutter aus und suchte. Fand nichts … Wie es meinem Vater wohl ging? Würde er in Panik geraten, wenn er erfuhr, dass wir das Geld nicht übergeben hatten?“
Entführer sind verärgert und drohen: „Wir schneiden ihm einen Finger ab!“
Die Entführer sind stinksauer. Am Morgen des 3. April taucht der „Engländer“ in Reemtsmas Keller auf: Niemand sei gekommen. Und im Wald, in dem sie gewartet hätten, sei Polizei gewesen.
Die Entführer erhöhen jetzt den Druck. Reemtsmas Frau erhält einen Brief, in dem es heißt: „Sollte die Übergabe aus polizeitaktischen Gründen scheitern, schneiden wir Herrn Reemtsma einen Finger ab.“
Es vergeht eine quälend lange Woche, bis Anweisungen für eine neue Geldübergabe kommen. Diesmal lotsen die Entführer Schwenn erst nach Luxemburg, dann auf einen Parkplatz bei Trier, wo der Anwalt den Geldsack über einen Zaun werfen soll.
Erneut gibt es eine Panne: Weil eine mitfahrende Polizeibeamtin erst ihren Pass von zu Hause holen muss, verspätet sich Schwenn. Die Entführer holen das Geld nicht ab. Das Bangen um das Opfer beginnt erneut.
Ein Pastor, ein Soziologe und ein Ex-Politiker sollen es nun richten
Jetzt beschreiten Drach und seine Komplizen einen neuen Weg. In Absprache mit Jan Philipp Reemtsma nehmen sie Kontakt mit St.-Pauli-Pastor Christian Arndt und dem Kieler Soziologieprofessor Lars Clausen auf, beides Vertraute des Entführten. Sie sollen die Geldübergabe übernehmen – und zwar ganz ohne Beteiligung der Polizei. Arndt und Clausen holen noch den Ex-GAL-Politiker Michael Herrmann ins Boot, der als „Briefträger“ zwischen ihnen und der Familie fungiert.
Die Entführer haben ihre Lösegeld-Forderung erhöht: Jetzt wollen sie 30 Millionen Mark.
Am Mittwoch, 24. April, gegen Mitternacht ist es so weit. Clausen und Arndt sollen zu einem Rastplatz bei Krefeld fahren. Gegen 3.40 Uhr sind sie vor Ort und erhalten per Handy die Aufforderung, den Wagen stehen zu lassen und zu einer 40 Gehminuten entfernten Telefonzelle zu laufen. Diesmal läuft alles nach Plan. Nach einer Stunde bekommen Arndt und Clausen Nachricht, wo sie den Wagen wiederfinden. Die Geldübergabe hat geklappt.
Nach 33 Tagen ist der Horror endlich zu Ende
Und die Entführer halten Wort. 42 Stunden später, am 26. April, lassen sie Reemtsma in einem Wald bei Harburg frei. Damit ist der 33-tägige Horror zu Ende.
Kurz darauf sind die Zeitungen voll mit der Geschichte. Alle Radio- und Fernsehsender berichten. Zahlreiche Journalisten sind schon mehr als einen Monat eingeweiht in die Vorgänge, aber alle haben dichtgehalten, um das Leben Jan Philipp Reemtsmas nicht zu gefährden.
Die Jagd nach den Entführern beginnt
Für Sohn Johann ist der Moment des Wiedersehens mit dem Vater seltsam, gesteht er später. Es sei nicht üblich in seiner Familie, sich bei einer Begrüßung zu umarmen, jetzt wurde das erwartet. Johann Scheerer: „Man kann sich nach so etwas ja nicht nicht umarmen. Aber es war eben ein fremdes Verhalten.“
Mit niemandem redet er über das Erlebte. Damals nicht. Und auch später nicht. „Es ist einfach so ein Riesending gewesen, dass es zu keinem Zeitpunkt besprechbar war. Es gab nie eine Situation, wo ich das hätte anbringen können.“
Sogar untereinander schweigt die Familie. Scheerer vergleicht seine Eltern und sich mit Kriegsversehrten. „Ein gemeinsames Trauma hält sie beisammen, doch jeder hat ein ganz anderes erlebt, jeder diese 33 Tage auf komplett unterschiedliche Weise.“ Eine gemeinsame Kommunikationsebene gebe es daher nicht.
Zwei Komplizen von Thomas Drach werden schnell gefasst
Gleich nach Reemtsmas Freilassung beginnt die Jagd nach den Tätern. Vier Wochen dauert es, bis die Polizei in Garlstedt bei Bremen das Haus findet, in dem Reemtsma festgehalten worden ist. Über den Mietvertrag kommen die Fahnder auf die Spur von zweien der Entführer: Sie werden in Spanien festgenommen und zu fünf bzw. zehneinhalb Jahren Haft verurteilt. Ein dritter Komplize stellt sich 1998. Ihm werden sechs Jahre aufgebrummt.
Nur die Fahndung nach Thomas Drach, dem „Superhirn“, verläuft zunächst erfolglos. Er führt als Anthony Lawlor, angeblich britischer Staatsbürger, ein luxuriöses Leben in Uruguay, hat sich dort eine teure Villa gemietet, fährt ein Mercedes-Cabrio und hat eine schöne Frau an seiner Seite. Davon allerdings weiß die deutsche Polizei nichts. Noch nicht.
Drach führt unter falschem Namen Luxusleben in Uruguay
1998 macht Drach einen Fehler: Er telefoniert mit einem alten Freund und erwähnt in dem Gespräch, dass er – wo er doch schon mal in der Stadt sei – zum Konzert der größten Band der Welt gehen werde. Die Polizei, die das Telefon des Freundes abgehört hat, ist sicher: Von den Rolling Stones ist die Rede. Dass deren nächster Auftritt in Buenos Aires stattfindet, ist leicht in Erfahrung zu bringen.
1998 wird der Entführer in Buenos Aires festgenommen
Die argentinische Polizei nimmt Drach fest. Er wird 2001 in Hamburg zu vierzehneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und sitzt bis zum 21. Oktober 2013 hinter schwedischen Gardinen. Danach taucht er ab – und erst vor wenigen Tagen ganz überraschend wieder auf: Drach hat offenbar nichts dazugelernt. Der inzwischen 60-Jährige sitzt in den Niederlanden in Auslieferungshaft. Polizei und Staatsanwaltschaft in Köln werfen ihm vor, 2018 und 2019 drei Überfälle auf Geldtransporter verübt zu haben.
Thomas Drach sitzt derzeit in der Niederlanden in Auslieferungshaft
Der größte Teil des Reemtsma-Lösegelds ist nie wieder aufgetaucht. 2013 wurde das letzte Gelddepot in einem Schließfach in Uruguay entdeckt: darin 460.000 US-Dollar. Und der ganze Rest? Alles verprasst.
Drachs Beteiligung an den Überfällen in Köln ist ein ziemlich klares Indiz dafür, dass er pleite ist.