Merkel kippt „Osterruhe“: Die Bundeskanzlerin hat sich heillos verheddert
Ihr Blick trüb, die Miene bitter: So trat die Kanzlerin Mittwochmittag vor die Presse und zog eine Notbremse der besonderen Art. Die „Osterruhe“ ist abgeschafft, bevor sie eingeführt war. Es ist der vorläufige Tiefpunkt des heillosen Wirrwarrs, in dem wir stecken. Und so löblich Merkels Klarheit bei ihrer Bitte um Entschuldigung auch war – die Frage ist: Was nun? Denn so geht’s ja nicht weiter.
Haben Sie schon mal spätnachts nach einem sehr langen Tag eine gute Idee gehabt? Also: eine, die auch am nächsten Tag nüchtern noch gut war? Die „Osterruhe“ soll am vergangenen Montagabend beim Corona-Gipfel spontan auf den Tisch gekommen sein, weil alles andere im Kanzleramt nicht als ausreichend betrachtet wurde. Und die Idee ist dann am Mittwoch kollabiert, weil die Komplexität der Folgen erdrückend und überwältigend war. Wie symptomatisch.
Was ist unser grundsätzliches Ziel im Umgang mit der Pandemie?
Wir hängen in einem Netz aus fein gesponnenen Corona-Regeln, die nach Uhrzeiten, Orten, Quadratmeterzahlen und Wochentagen aufgedröselt sind und die mit jeder neuen Runde komplizierter zu werden scheinen. Dieses Konstrukt ist über ein Jahr gewachsen. Und es ist das Ergebnis von zu vielen Kompromissen nach zu vielen Forderungen von zu vielen Interessengruppen.
Was ist unser grundsätzliches Ziel im Umgang mit der Pandemie? Wie ist der Weg dahin? Warum gilt so vieles in vielen Bereichen immer nur ein bisschen? Ein bisschen Homeoffice. Ein bisschen Masken am Arbeitsplatz. Ein bisschen testen. Aber im Park kontrolliert man den Biertrinker dann mit aller staatsmächtigen Wucht. Und die Kultur schließt man komplett.
Dass Tests und Impfstoff fehlen, das müssen sich Merkel und Co. anlasten lassen
Warum hat man jedes Mal den Eindruck, dass beim Corona-Gipfel noch Grundsatzfragen diskutiert werden müssen? Warum wirkt es immer so, als hätten die Ministerpräsidenten andere Interessen als das Kanzleramt, obwohl es doch immer auch ums große Ganze gehen sollte? Warum konnten vor Monaten noch Kritiker behaupten, die Wissenschaft regiere dieses Land, während man jetzt den Eindruck hat, niemand höre noch auf die Experten?
Dass vor allem Tests, aber auch Impfstoff fehlen: Das müssen sich Merkel und Co. anlasten lassen. Dass der zuweilen aberwitzig hohe Druck der Lobby-Verbände uns erst verfrühte Lockerungen und später hohe Inzidenzen beschert hat, das gehört auch zur Wahrheit. Angst vor den Medien, der Opposition, dem Druck der Verbände, das führte ins Chaos: Handel, Industrie, Tourismus, Gastronomie – alle wollen öffnen, öffnen, öffnen. Klar, die Pandemie, die ist schon schlimm. Aber an IHNEN liegt es ja nun schon mal nicht, dass die Leute sich anstecken.
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Dazu die noch immer fehlenden Informationen über grundliegende Faktoren (Wo stecken sich die Leute an?). Und das Ergebnis ist der verheerende Eiertanz der vergangenen Wochen und Monate, angetrieben von vielen Länder-Chefs. Halb gare Kompromisse, Bruchstückhaftes statt einer klaren Linie.
Und jetzt stehen wir da, mit runtergelassenen Hosen. B.1.1.7 auf dem Vormarsch, die Intensivbetten füllen sich, die Patienten werden immer jünger, Experten warnen und warnen. Und was machen wir jetzt außer dem Kram, von dem es heißt, dass er wohl nicht ausreicht?
Mit einer Ausgangssperre gewinnt man keine Beliebtheitspreise.
Man kann’s nicht allen in ihren wirtschaftlichen Interessen recht machen in so einer Situation. Allein der Versuch führt ins Elend. Aber man kann klar, konsequent und nachvollziehbar agieren, damit die Wirtschaft sich schnellstmöglich wieder entfalten kann. Mit einer Ausgangssperre ab 18 Uhr wie in Frankreich zum Beispiel gewinnt man keine Beliebtheitspreise. Aber sie taugt zur Kontaktvermeidung, das ist bewiesen. Und man braucht keine Gebrauchsanweisung, um sie zu begreifen. Auch das Ampelsystem aus Italien könnte eine gute Ergänzung sein.
Klarheit im Handeln steht übrigens auch nicht im Widerspruch zum sorgfältigen Abwägen aller berechtigten Interessen. Auch muss es natürlich möglich sein, nachzusteuern und eine Entscheidung zu revidieren, wenn sie sich als untauglich rausstellt.
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Rätselhaft ist, warum niemandem in der Runde aufgefallen ist, dass die „Osterruhe“-Idee nicht umsetzbar ist. Vielleicht lag’s an der Uhrzeit. Aber dafür, dass Merkel am Mittwoch damit und mit ihrem Fehlereingeständnis klar und eindeutig aufgetreten ist, hat sie Respekt von vielen bekommen. Wollen wir hoffen, dass sie mit dieser Klarheit weitermacht. Dass sie sichtbar ist, die Linie vorgibt und Orientierung bietet. Dass sie führt. Ihr Team und das Land. Denn das ist verdammt noch mal ihr Job. Erst recht in einer Krise.