Mut auf der Toteninsel: Als zwei Studenten auf Helgoland Kopf und Kragen riskierten
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Helgoland –
Traumziel vieler Nordsee-Fans, vielleicht Deutschlands bester Ort zum Entschleunigen. Wer weiß, wie schön es auf dem Eiland heute ist, kann sich kaum vorstellen, wie es dort nach dem Krieg aussah: Helgoland war eine Toteninsel, vollständig zerstört und unbewohnbar. Und die Chancen, dass sich daran etwas ändern würde, standen schlecht, denn die Royal Air Force nutzte die Insel als Übungsziel für Bombenabwürfe – bis zwei mutige Studenten aus Heidelberg die friedliche Invasion wagten und die britische Regierung in Zugzwang brachten. Genau 70 Jahre sind seither vergangen.
Deutschland 1950. Überall im Land wird heftig diskutiert über das Thema Wiederbewaffnung. Während Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) Vorbereitungen trifft, eine neue deutsche Armee aufzustellen, um der Gefahr aus dem Osten etwas entgegenzusetzen, ist ein großer Teil der Bevölkerung vehement dagegen. „Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen“, so die Losung der Pazifisten.
Britische Luftwaffe nutzt Helgoland als Übungsziel
Besonders groß ist der Widerstand an den Hochschulen. Bei einer der zahlreichen Diskussionsrunden, die die Studentenvertretung der Uni Heidelberg damals veranstaltet, begegnen sich diese beiden jungen Männer zum ersten Mal: Theologie-Student Georg von Hatzfeld (damals 21) und der Soziologe René Leudesdorff (22). „In einer Pause winkte mir Hatzfeld zu, ob wir mal draußen sprechen können“, so Leudesdorff viele Jahre später in einem Interview. Dabei sei schnell die Idee entstanden, nach Helgoland zu fahren. „Wir sind in ein Lokal gegangen, haben für 15 Pfennig eine Cola gekauft und einen Plan gemacht.“
Gleich mehrere Ziele setzen sich die beiden: Erstens wollen sie für ein friedliches Europa demonstrieren, ein Europa ohne Waffen. Und zweitens wollen sie auf den Widerspruch aufmerksam machen, dass die Westalliierten einerseits Deutschland für eine Allianz gegen den Osten zu gewinnen versuchen, sie aber gleichzeitig deutsches Territorium bombardieren – auch noch fünf Jahre nach dem Waffenstillstand.
Hoffmann von Fallersleben schrieb hier die Hymne
Gemeint ist die Insel Helgoland, der Ort, an dem Hoffmann von Fallersleben (1798-1874) einst das Lied der Deutschen dichtete. Im Laufe der Jahrhunderte hat die Insel immer wieder den Besitzer gewechselt: Sie war dänisch, dann britisch und kam schließlich 1890 im Zuge des sogenannten „Helgoland-Sansibar-Vertrages“ zum Deutschen Reich.
Die Nazis bauten die Insel zur Festung aus und leiteten damit ihre Zerstörung ein: 1000 britische Flugzeuge griffen im April 1945 an und warfen 7000 Bomben ab. Zwei Jahre später lösten die Briten auf der Insel dann auch noch die größte nichtnukleare Sprengung der Geschichte aus: Sie wollten so die Nazi-Bunkeranlagen restlos beseitigen. 6700 Tonnen Munition verursachten einen „Big Bang“, bei dem an der Südspitze der Insel ein riesiger Krater entstand.
Briten veranstalten 1947 einen „Big Bang“
Die Bewohner der Insel waren 1945 evakuiert worden. Manche fanden Zuflucht auf Sylt, viele auf dem Festland. Sich mit dem Verlust der Heimat abfinden, dazu waren nur die wenigsten bereit, und so starteten Exil-Helgoländer nach Gründung der Bundesrepublik eine Initiative: Sie appellierten an das britische Unterhaus, an die Bundesregierung und sogar an den Papst. Aber nichts fruchtete.
Bis zum 20. Dezember 1950. „Wir fuhren gegen zehn, halb elf los“, schildert René Leudesdorff die Aktion. Mit an Bord des Fischkutters „Paula“ sind sein Kommilitone Georg von Hatzfeld und zwei Frankfurter Journalisten. „Wir waren kaum aus dem Hafen raus, da ging das Schaukeln schon los. Wir hatten Windstärke sechs und die ,Paula‘ war höchstens zehn Meter lang, eine Nussschale auf den Wellen. Die Temperaturen waren ständig um die null. Mit dem Wind zusammen war die gefühlte Temperatur noch erheblich niedriger. Wir sehnten uns danach, in der Ferne endlich die Insel sehen zu können. Als sie dann aus dem Dunst auftauchte, kam sie uns wie ein liegender Frauenkörper vor. Ein toter Frauenkörper.“
Auf der Insel gibt es nichts als Trümmer
Auf der Insel finden die Gäste nichts als Trümmer und Ruinen vor. So stelle er sich den Tag nach dem Weltende vor, sagt Hatzfeld. Leudesdorff antwortet, für ihn sehe Helgoland aus wie Verdun und Stalingrad in einem.
„Wir haben versucht“, so Leudesdorff, „zum Flakturm raufzukommen, um die Fahnen zu hissen.“ Eine deutsche und die Europaflagge haben sie dabei. „Es war eine unendliche Kletterei, es war auch Schnee da, manchmal auch Eis, und immerhin auch 45 Grad Gefälle auf dem Geröll des Sprengtrichters. Die vielen Bombenblindgänger haben wir zunächst gar nicht wahrgenommen.“
Die beiden ersten Besatzer riskieren Kopf und Kragen
Auf der Insel begegnen die unangemeldeten Besucher britischen Soldaten, die wissen wollen, was sie da machen. „We are journalists, we want to see what is here“, geben sie radebrechend zur Antwort. Die Briten akzeptieren das, machen ihnen aber zur Auflage, abends wieder zurückzufahren, denn dann werde es wieder Bomben hageln. Leudesdorff & Co. versprechen zwar, sich daran zu halten, denken aber gar nicht daran. Sie bleiben.
„Lieber für 5 Minuten feige als fürs ganze Leben tot“
„Wir mussten damit rechnen, dass wir bombardiert werden. Aber wir haben eigentlich auf den Sportsgeist der Briten gesetzt, dass sie friedlich Demonstrierende nicht unter Bombardement nehmen würden. Als wir mal Flugzeuggeräusche hörten – Hatzfeld war gerade unten an der Pier, um eine weitere Europaflagge anzubringen – habe ich mich in den Keller des Flakturms, zwei Geschosse tief in der Erde, verkrochen. Ich habe mir gesagt, es gilt die alte Soldatenregel: Lieber für fünf Minuten feige als fürs ganze Leben tot.“
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Es ist die kälteste Nacht, die die beiden Studenten je erleben. Trotzdem verbringen sie noch eine weitere dort. Eigentlich hoffen sie, dass die Briten sie festnehmen und sie vor Gericht stellen. Die Gerichtsverhandlung wollen sie nutzen, um Aufmerksamkeit zu erregen und die Angelegenheit in die Weltöffentlichkeit zu bringen. Aber es kommt niemand, der ihnen Handschellen anlegt.
Im Januar gibt es weitere Helgoland-Besetzungen
Als der Fischerboot-Kapitän ihnen sagt, dass schlechtes Wetter drohe, er umkehren müsse und sie möglicherweise für viele Tage auf der Insel festsitzen würden, da beschließen die beiden den Abbruch der Aktion. „Unser Leben wollten wir nicht riskieren, also haben wir unsere Sachen gepackt und sind mit zurückgefahren.“ Aber immerhin hinterlassen sie auf der Insel ein großes Schild: „Wir kommen wieder!“ steht darauf.
In den beiden Wochen danach geben von Hatzfeld und Leudesdorff zahllose Interviews. Ihnen kommt gelegen, dass Jahresende ist. Nach einer Story wie dieser lechzen die Journalisten in einer so nachrichtenarmen Zeit. Und so geht das Foto vom Hissen der Flaggen auf Helgoland schon bald um die Welt.
Das Interesse an der Aktion wächst noch, als am 29. Dezember 1950 der Journalist, Schriftsteller, Dozent und Politiker Hubertus Prinz zu Löwenstein-Wertheim-Freudenberg ebenfalls auf Helgoland landet. In seinem Schlepptau: US-amerikanische Staatsbürger. So will der Prinz verhindern, dass die Briten die Insel während der Besetzung bombardieren.
Der internationale Druck auf London wächst
Diese zweite Besetzung dauert mehrere Tage. Die Aktivisten verleben sogar den Jahreswechsel auf Helgoland. Als sie am 3. Januar 1951 schließlich aufs Festland zurückkehren, werden sie zwar von der Polizei empfangen, aber die Weltpresse ist längst auf ihrer Seite. Der Tenor lautet: Es ist eine Schande, dass die Briten die Insel nach wie vor bombardieren! Und: Helgoland muss den Deutschen zurückgegeben werden!
London gerät nun unter Druck. Zunächst können sich die Verantwortlichen nicht so recht einig werden. Premierminister Clement Attlee und das Außenministerium plädieren dafür nachzugeben, doch dagegen wehrt sich die Royal Air Force. Die Militärs argumentieren, dass sie die Insel unbedingt als Abwurfgelände benötigten, eine Alternative gebe es nicht.
Am Ende ist es der Kalte Krieg, der den Ausschlag gibt: Um die Bundesbürger an den Westen zu binden, ist Großbritannien bereit, Helgoland zu opfern. Am 1. März 1952 wird die Insel feierlich an die Bundesrepublik zurückgegeben. Die einstigen Bewohner kehren zurück und beginnen mit dem Wiederaufbau der zerstörten Orte.
Für die beiden mutigen Heidelberger Studenten ist das ein großer Erfolg. Doch alle ihre Ziele erreichen sie nicht. Zwar ist Helgoland endlich frei, aber die Wiederbewaffnung Deutschlands kommt: Im Mai 1955 tritt die Bundesrepublik der NATO bei, sechs Monate später wird die Bundeswehr gegründet.
Für ihre gewaltfreie Aktion erhalten Leudesdorff und von Hatzfeld am 30. September 1993 aus der Hand von Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Bundesverdienstkreuz I. Klasse. Am 19. Dezember 2010 werden Georg von Hatzfeld und René Leudesdorff bei einem Festakt auf Helgoland zu „Verdienten Bürgern der Gemeinde Helgoland“ ernannt. Hatzfeld ist da bereits zehn Jahre tot. Leudesdorff stirbt am 5. Juni 2012 in Flensburg.