Kinder und Hartz IV: Hier ist die Armut groß – und deshalb gibt’s den „Hafen“
Jedes fünfte Kind in Deutschland wächst laut der Bertelsmann-Stiftung in Armut auf. In Hamburg ist der Anteil gerade in Dulsberg hoch, denn hier leben besonders viele Alleinerziehende. Wie Teilhabe trotzdem gelingen kann, zeigt das SOS-Familienzentrum. Die MOPO ist zu Besuch.
Ein grauer Montagnachmittag im Januar. Im Familiencafé „Krümel“ an der Straßburger Straße ist von der trüben Stimmung draußen aber nichts zu spüren: Gäste sitzen bei Tee und Kuchen zusammen, Kleinkinder spielen in der Spielecke direkt am Fenster. Doch im „Krümel“ gibt es nicht nur Kaffee, sondern auch mal einen Ratschlag.
SOS-Familienzentrum in Dulsberg: Die Nachfrage ist riesig
Denn das Café ist Teil des SOS-Familienzentrums, das im August in den neuen „Hafen für Familien“ gezogen ist. Das Gebäude mit bodentiefen Fenstern, viel grünem Teppichboden und hellem Holz ist zwar neu, das SOS-Kinderdorf mit seinem Familienzentrum mit Kurs- und Beratungsangeboten aber schon seit 2013 in Dulsberg aktiv. Der alte Standort platzte aus allen Nähten, daher das neue Gebäude.
Und jetzt ist die Nachfrage noch größer. In einer Woche besuchen bis zu 200 Kinder das Café oder nehmen an Kursen teil. Auch an diesem Montag malen und prickeln Kinder im Kreativkurs, versuchen im Musikkurs abwechselnd den Rhythmus am Schlagzeug zu halten oder toben im Bewegungsraum. Nur der Second-Hand-Kinderladen „Klecks“ ist gerade zu – hier stapeln sich Sachspenden, die noch eingeräumt werden müssen. Ein Kinderpullover oder Babybody kostet hier nur rund 1 Euro. Ferienprogramme mit Ausflügen, Hausaufgabenhilfe, Eltern-Beratungen und Familien-Frühsorge samt Hebamme – all das organisiert das Zentrum.
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Und dank der Spendengelder ist alles entweder kostenlos oder so günstig, dass es sich fast jeder leisten kann. „Hier begegnen sich unterschiedliche Menschen und Familien aus dem Stadtteil”, sagt die Koordinatorin des Familienzentrums, Katja Schmidtke. „Alle können unsere Angebote nutzen, unabhängig von ihrer finanziellen Situation.” So erhalten ärmere Familien Unterstützung, ohne gleich in eine Schublade gesteckt zu werden.
Gerade in Dulsberg ist der Bedarf groß: In dem kleinen Stadtteil mit vielen Rotklinkerbauten sind 39,4 Prozent der unter 15-Jährigen auf Hartz IV angewiesen – das sind deutlich mehr die stadtweiten 19,6 Prozent in dieser Altersgruppe. Und auch der Anteil der alleinerziehenden Haushalte, die besonders oft von Kinderarmut betroffen sind, ist hier mit 41,7 Prozent stadtweit am höchsten.
Kinderarmut: Die Folgen sind gravierend
Die Folgen für in Armut lebende Kinder und Jugendliche sind gravierend: Laut der Bertelsmann-Stiftung werden sie häufiger ausgegrenzt, gehänselt und erleben öfter Gewalt. Sie sind in ihrer Mobilität und gesellschaftlichen Teilhabe begrenzt, häufiger von gesundheitlichen Beeinträchtigungen betroffen und haben geringere Bildungschancen und Handlungsperspektiven.
Kinder bemerken die Sorgen ihrer Eltern und erfahren sehr früh ein Gefühl von Ohnmacht und dass sie auf mehr verzichten müssen als andere Kinde, sagt Claudia Töllner-Heinrich. Die Sozialpädagogin leitet die Eltern AG, einen Kurs für Eltern in belastenden Lebenslagen. „Hinter jeder Mutter steht eine persönliche Geschichte, wie sie in diese Situation geraten ist“, sagt sie. „Keine Mutter will arm sein. Und jede Mutter will für ihre Kinder das Beste.“
Besonders kleine, beengte Wohnungen verursachen Stress, weil Kinder weniger Rückzugsmöglichkeiten und Ruhe zum Lernen haben. „Die Stadt hat über Jahrzehnte versäumt, bezahlbaren Wohnraum für Familien zu schaffen“, sagt Torsten Rebbe, Leiter des SOS-Kinderdorfs Hamburg. „Das fällt uns jetzt auf die Füße.“
Bildung kann helfen, doch zu viel ist dem Zufall überlassen
Armut wird oft zu einem Kreislauf. Viele der Eltern-AG-Teilnehmerinnen etwa konnten aus verschiedenen Gründen schon selbst keine gute Berufsausbildung absolvieren. Wer als Kind in prekären Verhältnissen aufwächst, kommt oft auch als Erwachsener nicht aus ihnen heraus.
Bildung könne zwar helfen, dabei sei in unserem System jedoch zu viel von der Familie abhängig, sagt Rebbe. „Es kommt auch darauf an, was einem vorgelebt und ob beim Lernen geholfen wird“, sagt er. „Aber es ist absolut zufällig, in welche Familie man hineingeboren wird.“
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Gerade Kontakt nach außen sei wichtig, sagt Rebbe. Denn besonders über zwischenmenschliche Beziehungen könne man Biografien verändern. Doch dazu brauche es Zeit, Gelegenheit und Angebote, die Kindern Spaß bringen. „Aber besonders die offene Kinder- und Jugendarbeit wird seit 15 Jahren systematisch gekürzt“, sagt Rebbe, der seit 25 Jahren in dem Bereich arbeitet. Dabei sei gerade Prävention wirksam. Die Hamburger Sozialbehörde ließ die MOPO-Nachfrage zu diesen Kritikpunkten unbeantwortet.
Erfolge erleben die Mitarbeiter des Familienzentrums trotzdem: Etwa, wenn es ein Kind trotz schwerer Startbedingungen aufs Gymnasium schafft und dort gut zurechtkommt. Oder eine Mutter erfolgreich für einen längeren Kita-Gutschein kämpft – und so doch noch einen Weiterbildungskurs besuchen kann. Und das Wichtigste: Die Kinder fühlen sich hier wohl und kommen immer wieder her.