Von Ängsten bis Selbstmord: So dramatisch sind die Lockdown-Folgen für Kinder
Die Nebenwirkungen des Lockdowns machen sich bei Kindern und Jugendlichen immer dramatischer bemerkbar: Angstzustände, psychische Krankheiten, Gewalterfahrungen, Selbstmordgedanken. Die Anfragen nach Therapieplätzen steigen – aber freie Plätze gibt es kaum. Viele Eltern sind überfordert und schauen teilweise hilflos auf ihre Kinder, die sich zwischen Fernsehen, sozialen Medien und Homeschooling bewegen und häufig im Zustand der Langeweile enden. Wie akut ist die Lage in Hamburg?
„Bei allen Kolleginnen und Kollegen steigen die Anfragen für Erstgespräche“, sagt Gitta Tormin, Kinder- und Jugend-Psychotherapeutin und Vorstandsmitglied in der Psychotherapeutenkammer Hamburg, im Gespräch mit der MOPO. „Ich habe selbst einige Jugendliche, bei denen ich die Therapien gut zu Ende geführt habe, die jetzt wiederkommen“, sagt sie. Die meisten hätten den ersten Lockdown als nicht so schlimm erlebt wie den zweiten – die Länge und die Ungewissheit, wann er endet, fördern Ängste und Depressionen.
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„Die Kollateralschäden werden exorbitant sein“, sagt Tormin. Wenn die Probleme und Ängste jetzt nicht angegangen werden, würden sie sich verfestigen, erklärt sie. Bei Kindern verschlimmern sich durch die psychischen Belastungen auch Krankheiten wie beispielsweise Diabetes: „Der Körper hängt stark mit der Psyche zusammen.“ Die derzeitigen Anfragen können von den zugelassenen Therapeuten in Hamburg nicht bewältigt werden. „Ich weiß nicht, wo die Patienten bleiben, die derzeit abgewiesen werden müssen“, sagt Tormin besorgt.
Hamburg: Therapeuten müssen Kinder und Jugendliche abweisen
Diese Beobachtung zeigt sich in ganz Deutschland. In einem offenen Brief von Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiatern an die Bundesregierung ist ebenfalls die Rede von „Schwierigkeiten in der Versorgung“. Derzeit müsse man reguläre Behandlungen verschieben oder absagen, um sich um die akut gefährdeten Kinder und Jugendlichen zu kümmern.
Der Bundesverband der Vertragspsychologen (BVVP) fordert unterdessen: Die Planungen für die Zeit nach dem Lockdown müssten jetzt starten – unter anderem müsse über eine vermehrte Zulassung von Therapeuten diskutiert werden. Denn der BVVP hat in einer Online-Befragung von rund 10.000 Kindern und Jugendlichen im Zeitraum von Mitte Dezember 2020 bis Mitte 2021 alarmierende Ergebnisse festgestellt.
Auch in Hamburg: Kinder leiden unter den Lockdown-Folgen
Die jungen Patienten leiden verstärkt unter Ängsten, befassen sich mit Themen wie dem Tod, sind den Spannungen im häuslichen Umfeld ausgesetzt und erfahren vermehrt Gewalt. Leistungsabfall und Versagensängste, Gewichtszunahme und der Wegfall von sozialen Kontakten zu Gleichaltrigen, Musik, Sport im Verein aber auch fehlende Angebote durch Jugendhilfen führen zu massiven psychosozialen Beeinträchtigungen bis hin zu psychischen Störungen. Hinzu kommen Schlaf- und Essstörungen und ein vermehrter Substanzmissbrauch. Einige Experten berichten ebenfalls von akuter Selbstmordgefährdung und schweren Krisen nach Eskalationen im eigenen Zuhause.
Im Video: Marlene Lufen spricht über die Lockdown-Situation in Deutschland
Zwischen den Altersstufen sind jedoch Unterschiede zu erkennen – bei Kleinkindern berichten Eltern vermehrt von Trennungsängsten bei der Abgabe in die Notbetreuung, von Wutanfällen und Aggressionen. Schulkinder entwickeln durch die unregelmäßigen Besuche teilweise Ängste vor der Schule. Bei jüngeren Jugendlichen ist der starke Medien- und Internetkonsum auffällig, sowie eine zunehmend ungesunde Ernährung und die Entwicklung von Essstörungen.
Hamburg: Immer mehr Eltern suchen nach Hilfe im Lockdown
Die tatsächliche Lage in den Familien in Hamburg ist während des Lockdowns nur schwer zu ermitteln. Zum einen liegen noch keine Zahlen für das vergangene Jahr vor, so der Sprecher der Sozialbehörde, Martin Helfrich. Der Kinder- und Jugendbericht erscheint erst im Sommer.
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Zum anderen sei „die soziale Kontrolle einfach komplett runtergefahren“, sagt Ralf Slüter, Geschäftsführer des Landesverbandes des Kinderschutzbundes in Hamburg, im Gespräch mit der MOPO. „Soziale Kontrolle“ meint, dass es eigentlich viele Augen gibt, die auf die Kinder schauen und sich Sorgen um sie machen – Lehrer, andere Eltern, Sozialarbeiter und viele mehr. Einige Kinder seien jetzt aber auf sich gestellt.
Folgen des Lockdown werden sich erst nach der Pandemie zeigen
„Derzeit rufen die Eltern viel mehr bei uns an als vorher“, sagt Slüter. Und das über alle Schichten hinweg. „Alle sind stark belastet, Homeschooling und Homeoffice unter einen Hut zu bekommen.“ Hinzu kommt die Enge, der fehlende Ausgleich und die irgendwann aufgebrauchten Beschäftigungsmöglichkeiten. „Die Konsequenzen des Lockdowns sind noch gar nicht abzusehen“, sagt Slüter. Die tatsächlichen Folgen, beispielsweise bei den schulischen Leistungen oder in der Sozialkompetenz, würden sich erst nach der Pandemie zeigen.