Ein Jahr nach Hanau-Attentat: „Er war meine Familie, mein ein und alles“
Hanau –
Als vor etwas über einem Jahr ein Attentäter in Hanau aus rassistischen Motiven neun Menschen und danach seine Mutter und sich selbst tötete, da setzten zuerst die üblichen Mechanismen ein: Entsetzen, Ratlosigkeit. Doch dann änderte sich etwas: In der Berichterstattung versuchten Medien, nicht länger nur den Täter, sondern stärker auch die Opfer in den Vordergrund zu rücken. Die Hinterbliebenen hatten sich dafür stark gemacht. Gleichzeitig beklagen sie auch ein Jahr nach der Tat schwere Versäumnisse der Behörden, Migrantenverbände mahnen: Wir haben immer noch Angst!
Diana Sokoli war die Freundin von Fatih Saraçoglu, einem der Opfer. Auch ein Jahr nach dem Attentat kann sie es noch gar nicht richtig greifen – all die Trauer, das Entsetzen: „Wenn ich nachts schlafen gehe und er nicht an seinem Platz liegt. Die Wohnung ist wie zuvor. Ich habe nichts verändert“, erzählt sie in einer Doku des „Hessischen Rundfunks“. „Er war meine Familie, mein ein und alles“, sagt sie. Dass ihr Freund an diesem Abend ausging, sei eine Ausnahme gewesen. Saraçoglu starb vor der Bar, die der Attentäter angriff.
Said Etris Hashemi: sein Bruder Nesar starb, er wurde schwer verletzt
Und dann ist da Said Etris Hashemi. In einem „Spiegel“-Interview erzählt er, wie sein jüngerer Bruder Nesar neben ihm erschossen wurde. Tobias R. feuerte auf beide, Said wurde schwer verletzt, aber überlebte – sein Bruder nicht. „Ich habe heute mehr offene Fragen als in den Tagen danach“, sagt Hashemi. Berichtet etwa, wie sein Freund Piter, der auch vor Ort war, von Beamten einfach zu Fuß in die nächste Wache geschickt wurde, vier Kilometer entfernt. Obwohl der Täter zu dem Zeitpunkt noch frei herumlief.
Zuerst hatte Tobias R. drei Menschen am Hanauer Heumarkt erschossen, bevor er zum nächsten Ort weiterzog. Nach den ersten Schüssen riefen dutzende Tatzeugen den Notruf 110. Und kamen nicht durch. Warum? Es ist eine der Fragen, die sich die Hinterbliebenen immer wieder stellen. Sieben weitere Menschen starben, bis die Polizei die Fahndung aufnahm.
Hinterbliebene ermittelten selbst
Eine Gruppe Hinterbliebener hat sich zusammengetan und selbst Recherchen angestellt – weil ihnen die Antworten der Behörden nicht reichten. Unter anderem fanden sie heraus, dass der Vater des Täters wohl doch mehr wusste, als bisher angenommen. Dieser hatte behauptet, er habe nicht mitbekommen, wie sein Sohn nach dem Anschlag in die elterliche Wohnung kam. Wie er erst seine Mutter und dann sich selbst tötete. Er sei schon um 20 Uhr im Bett gewesen, weil er um 4 Uhr habe arbeiten müssen, so der Vater. Tatsächlich soll das gelogen sein, sagen die Angehörigen. Sie haben Strafanzeige gestellt gegen den Mann, der sich in der Nachbarschaft regelmäßig rassistisch äußern soll.
Die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen äußerte sich zuletzt kritisch zur Aufarbeitung des Falls. Mehmet Tanriverdi von der Kurdischen Gemeinde Deutschlands etwa forderte in der „Tagesschau“ aktiveres Handeln gegen Rassismus „auf allen Ebenen“. Allerdings: Auch er sieht Hanau als Zäsur, sieht auch „eine gute Entwicklung“. Dass Deutschland ein großes Rassismus-Problem habe, sei mehr in den Fokus gerückt worden.
Migrantenverbände: Es muss noch mehr getan werden
Die Regierung hat im Dezember ein ganzes Maßnahmenpaket gegen Rechtsextremismus und Rassismus beschlossen – auch als Antwort auf das Attentat von Hanau. Doch das reiche nicht, findet Farhad Dilmaghani vom Verein „DeutschPlus“, der sich für interkulturellen Austausch und ein vielfältiges Deutschland einsetzt. Er spricht von einem „Sammelsurium“, und bemängelt, dass einzelne dieser 89 Maßnahmen zwar sehr sinnvoll seien, aber eine „Gesamtstrategie“ fehle. Etwa brauche es ein Antidiskriminierungsgesetz mit mehr Klagemöglichkeiten und ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen sowie ein eigenes Ministerium für Migration und Gleichstellung.
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Für den ersten Jahrestag am Freitag ist eine Gedenkveranstaltung in Hanau geplant, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich angekündigt. Er spielte nach dem Anschlag eine große Rolle im Leben von Hashemi: Im „Spiegel” erzählt der, wie er vom Tod seines Bruder erfahren hat: „Zufällig ging das Radio an. Da sprach gerade Bundespräsident Steinmeier, er las die Namen der Toten vor. Er nannte auch den Namen von Nesar.“