Reicht die Notbremse?: „Als würde man mit 100 fahren, wo bei 30 der Absturz droht“
Berlin –
Die Novelle des Infektionsschutz-Gesetzes ist nicht beschlossen, da wird sie schon zerpflückt. Vor allem in der Diskussion: die Sinnhaftigkeit von Ausgangssperren und Inzidenzwerten. Außerdem schlagen Ärzte und Wissenschaft Alarm: Die Maßnahmen würden so nicht reichen.
Als Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor zwei Wochen bei Anne Will saß und ankündigte, dass sie sich das nicht lange ansehen werde, wenn die Landesfürsten die vereinbarten Regeln nicht einhalten, war im Grunde klar, was kommen würde. Es dauerte zwar zwölf Tage, aber jetzt steht fest: Die Bundesregierung möchte die Bund-Länder-Treffen abschaffen.
Dafür will der Bund mehr Kompetenzen, wie die Verfassung dies erlaubt in Zeiten von Seuchen. Bundestag und Bundesrat sollen noch zustimmen. Im Großen und Ganzen herrscht Einigkeit mit den Ländern. Zumal bisher nur bereits beschlossene Maßnahmen ab einer gewissen Inzidenz verbindlich umgesetzt werden sollen.
Streit um die Magische Grenze von 100
Die magische Grenze, wie sie Hamburg schon kennt: 100. Wer diesen Wert drei Tage hintereinander überschreitet, soll die strengen Regeln einhalten, die in der Hansestadt schon gelten. Aber: Kritik gibt’s vom „Team Vorsicht“ genauso wie von den Lockdown-Gegnern. Virologin Melanie Brinkmann und andere „No-Covid“-Verfechter argumentierten jüngst in der „Zeit“: Schon das Aufweichen der 50er-Inzidenz sei Wahnsinn gewesen.
Mit einem „offenen Brief“ an den Bundestag meldeten sich dagegen der Ex-Chefvirologe der Berliner Charité, Detlev Krüger, und der Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr. Sich am Inzidenz-Wert zu orientieren: sei Quatsch! Da durch verstärktes Testen höhere Werte entstünden. Außerdem sei mit dem Wert nicht gesagt, welche Bevölkerungsgruppe von der Infektion betroffen ist. Die ja bekanntlich unterschiedlich gefährdet sind. Wichtiger seien etwa die Neuaufnahmen in den Kliniken als Maßstab.
Klinik-Chef: „Es ist fünf nach zwölf“
Allerdings: Genau dort schlägt es gerade „fünf nach zwölf“. So äußerte sich zumindest gestern der Kölner Klinik-Direktor Michael Hallek. Wie viele Ärzte in den Tagen zuvor zeigte er sich „entsetzt“ über die Langsamkeit der Entscheidungen. Noch eine Woche hätten sie in der Kölner Uniklinik, dann müssten sie Triage-Maßnahmen ergreifen. Die Inzidenz von 100 sei seiner Meinung nach „zu spät und zu ungenau“ als Grenzwert: „Das ist ungefähr so, als würden Sie auf einem ganz engen Weg in den Dolomiten mit Tempo 100 fahren dürfen und Sie wissen, dass schon bei 30 der Absturz droht.“
Ähnlich äußerten sich Krügers Charité-Nachfolger Christian Drosten und Karl Lauterbach (SPD): Einhellig beschworen sie, dass die beschlossenen Maßnahmen bei weitem nicht reichen, um die dritte Welle zu brechen.
Auch bei Ausgangssperren herrscht Uneinigkeit
Die Diskussion um Ausgangssperren trat da fast in den Hintergrund. Befürworter führen eine Studie der Uni Oxford an, die eine Senkung des R-Werts, also der Größe, mit der ein Virus sich verbreitet, um zehn bis 20 Prozent durch nächtliche Ausgangssperren zählte. Deutsche Aerosol-Forscher hingegen bemängelten in einem offenen Brief: So würden Menschen nur in die für Ansteckungen deutlich gefährlicheren Innenräume getrieben. „Unverhältnismäßig“ findet sie zudem FDP-Chef Christian Lindner, der ohnehin für Öffnen plädiert und keine weiteren Lockdown-Maßnahmen möchte, trotz aller Warnungen von Wissenschaft und Kliniken.
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Die Frage ist, ob wir in zwei Wochen, wenn die Novelle des Infektionsschutzes durch sein dürfte, nicht ohnehin ganz andere Maßnahmen brauchen.