Total kurios: Warum der HSV vor genau 100 Jahren auf die Meisterschaft verzichtete
Vor 100 Jahren, am 18. Juni 1922, spielte der HSV zum ersten Mal um die Deutsche Meisterschaft. Das Endspiel gegen den 1. FC Nürnberg geriet zu einem Fußball-Krimi, der erst fünf Monate später aufgelöst wurde.
Mit dem Zusammenschluss von HSV 88, Germania und Falke entstand im Juni 1919 der Hamburger Sport-Verein. Von Anfang an wollte der Fusionsklub um die Deutsche Meisterschaft mitspielen – und drei Jahre später war der HSV dem Ziel nahe. Zwar hatte es im Ligabetrieb Niederlagen gegen Victoria (0:1), Ottensen 07 (3:4), Concordia (2:3) und St. Georg (1:3) gegeben, doch norddeutscher Meister wurde der Rauten-Klub – und qualifizierte sich damit für die DFB-Endrunde.
Meisterschafts-Endspiel 1922: HSV bestreitet gegen Favorit Nürnberg sein erstes Finale
Mit dem neuen Mittelläufer Asbjörn Halvvorsen aus Norwegen und Luten Breuel als Knipser lief es dort wie geschmiert. Zwei Kantersiege gegen Titania Stettin (5:0) und Wacker München (4:0) brachten den Klub in sein erstes Endspiel – gegen den 1. FC Nürnberg, der 1920 und 1921 die Meisterschaft gewonnen hatte und damals die meisten deutschen Nationalspieler stellte.
Abpfiff nach 189 Minuten – kein Sieger im dunklen Berlin
Das Finale im Berliner Grunewald-Stadion war heiß umkämpft. 30.000 Zuschauer sahen, wie Hans Flohr in der 86. Minute für die Hamburger zum 2:2 ausglich. Nach den damaligen Regeln gab es eine Verlängerung bis zum nächsten Tor – doch das wollte einfach nicht fallen. Müder und müder schleppten sich die Spieler über den Rasen, ehe nach 189 (!) Minuten gegen 21 Uhr Schluss war. Es war einfach zu dunkel, um weiterzuspielen. Flutlicht wurde in Deutschland erst Jahrzehnte danach eingeführt.
Wiederholung in Leipzig: Zwei Nürnberger fliegen vom Platz, der HSV steht vor dem Sieg
Ganze sechs Wochen später kam es in Leipzig zum Wiederholungsspiel. 50.000 Zuschauer sahen ein 1:1. Wieder Verlängerung, mit Vorteil für den HSV. Denn bei Nürnberg war Willy Böß vom Platz geflogen und Anton Kugler verletzt ausgeschieden. Wechsel waren damals noch nicht erlaubt. Nach zehn Minuten Verlängerung verwies Schiedsrichter Peco Bauwens dann auch noch Heinrich Träg des Feldes.
Mit Elf gegen Acht stand der HSV dicht vor dem Sieg – aber nur fünf Minuten lang. Dann lag der Franke Luitpold Popp am Boden und signalisierte in der Halbzeitpause der Verlängerung, dass er nicht mehr weiterspielen könne. Bauwens brach die Partie ab, da Nürnberg nicht mehr die geforderten acht Spieler auf dem Platz hatte.
HSV – Nürnberg 1922: Nach dem Spielabbruch geht das Duell erst richtig los
Der HSV war damit Deutscher Meister – oder etwa nicht? So ganz genau wusste das niemand. Das Fachblatt „Turnen, Spiel und Sport” veröffentlichte am 8. August 1922 zwei Berichte. „HSV deutscher Meister”, titelte Paul Dreyer. „Ist die Meisterschaft des HSV gefährdet?“, fragte dagegen Walter Cordua. Und irgendwie war beides wahr.
Im August ist der HSV Meister, im September nicht mehr
Das Nachspiel dauerte Monate. Der DFB-Spielausschuss erklärte den HSV am 19. August in Hildesheim zum Meister. Doch der DFB-Vorstand hob die Entscheidung am 17. September in Würzburg auf Protest der Nürnberger wieder auf. Begründung: Der Abbruch sei nicht vorschriftsgemäß während des Spiels erfolgt, sondern in einer Pause.
HSV benennt Zigaretten-Zeugen: War Nürnbergs Popp „ein Simulierer“?
Der HSV zweifelte wiederum die Verletzung von Popp als vorgeschoben an. Und benannte einen Zuschauer als Hannover als Zeugen, der den geschundenen Kicker im Auto fröhlich eine Zigarette rauchen gesehen haben wollte. Sein Schluss: Popp sei „lediglich ein Simulierer” gewesen.
Der HSV-Vorsitzende Carl Staelin formulierte scharf: „Dies Verhalten Nürnbergs ist ein Zeichen von einem sportmännischen Geiste, der nicht genug gegeißelt werden kann.” Der Rechtsanwalt forderte, seinem Verein den Titel zuzusprechen: „Eine andere Entscheidung ist nichts weiter als eine Prämie auf Unsportlichkeit und öffnet Unregelmäßigkeiten im Sport Tür und Tor.”
Letztlich musste der DFB-Bundestag entscheiden, der am 18. November in Jena zusammentrat – exakt fünf Monate nach dem ersten Endspiel. Stundenlang wogten die Diskussion hin und her, immer wieder wurde in Grüppchen verhandelt. Ob und welche Absprachen es gab, ist nicht gewiss. Aber schließlich entschied der Bundestag mit 53:35, dass der Spielausschuss-Beschluss gültig sei. Der HSV war Deutscher Meister 1922 – für Minuten. Denn dann tritt der ehemalige HSV-Vorsitzende Henry Barrelet vor die Versammelten und erklärt: „Der HSV erhebt keinen Anspruch auf die diesjährige Deutsche Meisterschaft.”
Ex-Boss Barrelet verzichtet für den HSV auf die Deutsche Meisterschaft
Lauter Beifall brandete auf, denn damit hatten alle Seiten irgendwie ihr Gesicht gewahrt. Auch dies spricht dafür, dass der Verzicht des HSV nicht spontan erfolgte, sondern im Vorfeld mit den Nürnbergern abgestimmt worden war. Handfest belegen lässt sich dies allerdings nicht.
Der DFB-Vorstand, der den „Fortfall” der Meisterschaft beantragt hatte, zeigte sich nicht erleichtert, sondern beleidigt. Am nächsten Vormittag brummte er dem HSV eine 10.000-Mark-Strafe auf, weil er sich in seinen Vereinsnachrichten beleidigend geäußert habe. Zu diesem Zeitpunkt waren keine Hamburger mehr in Jena, um sich zu verteidigen. Die HSV-Funktionäre waren zurück in die Hansestadt geeilt, um am Rothenbaum das Freundschaftsspiel ihres Vereins gegen Sparta Prag (2:3) zu verfolgen.
10.000 Mark Strafe für den HSV – aber sieben Monate später gibt es Grund zum Feiern
Keine sieben Monate später war der Zorn verraucht: Am 10. Juni 1923 gewann der HSV sein nächstes Endspiel gegen den Berliner Klub Union Oberschöneweide mit 3:0 – und war damit unumstritten Deutscher Meister.
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Die Frage, wie mit Spielen umzugehen sei, die einfach keine Entscheidung finden wollen, beschäftigte die Fußballwelt noch lange. Erst 1952 kam es im jugoslawischen Pokal zum ersten Elfmeterschießen zwischen Kvarner Rijeka und Proleter Osijek, ab den 1970er-Jahren setzte sich die „Entscheidung von der Strafstoßmarke” gegenüber Wiederholungsspielen oder einem Münzwurf allmählich durch.