Flüchtlingstragödie im Mittelmeer: Hamburg muss das Herz Europas werden
Am 3. September 2015 erfuhr ich vom Tod des Jungen Alan Kurdi (3) und sah das Bild, das sich in unser aller Gedächtnis eingebrannt hat. Der überlebende Vater beschrieb, dass das Boot kenterte und er den älteren Sohn Ghalib (5) loslassen musste, um den jüngeren Sohn zu retten. Er verlor beide Söhne und auch seine Frau Rehana Kurdi ans Mittelmeer.
Vor genau einem Jahr traf ich Abdullah Kurdi zusammen mit seiner Schwester Tima Kurdi in Palma de Mallorca. Sie folgten unserer Einladung, um unser Rettungsschiff auf den Namen ihres ertrunkenen Jungen zu taufen. Abdullah warf die Flasche an den 70 Jahre alten Rumpf und umarmte seine Schwester unter Tränen. Er sagte mir, dass er sich wünsche, dass dieses Schiff viele Menschen rettet. Ich gab ihm das Versprechen, dass wir nicht aufgeben würden.
Mittelmeer-Länder blockieren Seenotretter
Seither verfolgt die syrische Familie den Kurs der „Alan Kurdi“. Das Versprechen zu geben, fiel mir nicht leicht, denn ich war selbst voller Zweifel und Sorgen. Die Spenden waren knapp. Seenotretter wurden kriminalisiert und der italienische Innenminister Salvini machte auch vor Beleidigungen und Verhaftungen nicht halt.
Es waren dunkle Monate, nach dieser Schiffstaufe. Kapitäne und Einsatzleiter waren schwer zu finden. Schiff und Crew wurden mehrfach vor Malta oder Italien blockiert. Nach der Anklage der Kapitänin Carola Rackete und der Beschlagnahmung der „Sea-Watch 3“ im Juni 2019 war Sea-Eye’s „Alan Kurdi“ plötzlich das letzte Rettungsschiff in der libyschen Rettungszone. Es ist ein beklemmendes Gefühl, wenn alle Verbündeten festgehalten werden, während die eigenen Crews in den Einsatz fahren und die nächste Blockade zur Schlagzeile auf den großen Monitoren am Hamburger Hauptbahnhof wird.
In insgesamt zehn Missionen haben wir nun 538 Menschenleben gerettet. Die Krise beherrschte unseren Alltag. Im Oktober riss der Funkkontakt zur „Alan Kurdi“ ab. Das Letzte, was wir von unserem Einsatzleiter Joshua am Telefon hörten, war: „Die Libyer schießen.“ Dann zwei Stunden nichts. Unsere Crew handelte besonnen, sie war gut trainiert worden. Niemand wurde verletzt. Doch wir wurden daran erinnert, dass unsere Rettungskräfte selbst in Lebensgefahr geraten können.
Hasswelle und Morddrohungen gegen Seenotretter
Diejenigen von uns, die für den Verein sprechen, müssen jeden Tag mit Hassmails rechnen. Morddrohungen leiten wir direkt an die Staatsanwaltschaften weiter. Einmal sagte ein befreundeter Anwalt zu mir: „Überleg dir gut, ob du Strafanzeige erstattest. Du hast Familie, und diese Menschen sind gefährlich.“
Hass wird durchaus durch die Meinungsfreiheit geschützt. Doch wer schützt uns? Gegen den ehemaligen italienischen Innenminister Salvini wird nun selbst ermittelt. Die Rettungsschiffe der Hilfsorganisationen werden wieder freigelassen. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat ein Schiff ersteigert. Dieses Kirchenschiff wird Menschenleben retten.
Grund für Optimismus gibt es dennoch wenig. Wir machen uns nichts vor. Die EU-Mitgliedsstaaten können sich nicht auf eine neue Marineoperation einigen. Zu unterschiedlich sind die Interessen und es reicht aus, dass Österreich allein widerspricht.
In Griechenland diskutiert man über Seebarrieren. Es gibt Lager mit unhaltbaren Zuständen auf griechischen Inseln. Lager, heute, hier in Europa.
Was ich von Hamburg jetzt erwarte
In Hamburg stehen nun Bürgerschaftswahlen an. Die Stadt erklärte sich zum sicheren Hafen, nachdem sich Tausende Menschen vor das Rathaus legten. Doch was bedeutet das? Inzwischen ist Hamburg der Heimathafen der „Alan Kurdi“ und der „Sea-Watch 3“.
An der Spitze Hamburgs wünsche ich mir einen Menschen, der nicht nur die eigene Stadt im Blick behält, denn Hamburg ist keine Insel. Hamburg liegt nicht nur im Herzen Europas, es kann auch Herz von Europa werden.
Ein Bürgermeister oder eine Bürgermeisterin muss aus Menschenrechten auch Menschenpflichten ableiten. Wenn Menschen zu Tausenden ertrinken oder in Lagern leiden, brauchen wir klare Haltung und laute Stimmen aus unserem Rathaus. Denn Hamburg kann viel mehr, und man darf den Hamburgerinnen und Hamburgern noch viel mehr zutrauen.
Denn wem in Europa geht es noch besser als uns?