Niederlagenserie: Die ersten Risse im System Putin
Wladimir Putin darf laut russischer Verfassung noch bis 2038 regieren. Also womöglich bis zu seinem Tod. Doch die Kritik an dem 69-Jährigen wird nach einer Niederlagen-Serie des russischen Militärs im Nordosten der Ukraine immer lauter. Noch scheint sein Unterdrückungssystem gut genug zu arbeiten – doch Gefahr droht aus mehreren Ecken.
Seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar lief es im russischen Staats-TV eigentlich immer gleich ab: Kommentatoren und Gäste überboten sich gegenseitig in Triumph-Geheule, Drohungen und nationalistischen Hass-Reden. Die Moderatoren folgten streng der vom Kreml vorgegebenen Sprachregelung.
Plötzlich ist trotz Verbots von „Krieg“ die Rede
Doch seit die Ukraine laut Angaben aus Kiew mehr als 6000 Quadratkilometer besetztes Gebiet zurück erobert hat – so viel wie Russland seit April erobert hatte –, hat sich die Stimmung merklich gedreht. In den Staatsmedien bricht Chaos aus, eine einheitliche Linie ist kaum mehr zu erkennen. Nun fällt auch dort häufiger mal der Begriff „Krieg“, obwohl es von Gesetzes wegen eigentlich „Spezialoperation“ genannt werden muss. Boris Nadezhdin, ein ehemaliger Duma-Abgeordneter und (bisher) gern gesehener Gast, erklärte nun sogar, man müsse in Friedensverhandlungen eintreten: „Es ist absolut unmöglich, die Ukraine mit den Mitteln und Methoden des Kolonialkriegs zu besiegen, mit denen Russland versucht, einen Krieg zu führen.“
Auch der Kriegs-Blogger Juri Podoljaka, der beste Verbindungen zur kämpfenden Truppe unterhält, empört sich: „Selbst die hochrangige russische Führung versteht und akzeptiert die Tatsache nicht vollständig, dass wir uns im Krieg befinden, und dass die Dinge nicht nach Plan laufen.“ Bis zum Frühjahr müsse es „ernsthafte Reformen in der Armee und an der Heimatfront“ geben. Der russische Ultranationalist Igor Girkin, ehemals Kommandeur im Donbas, wettert: „Der Krieg in der Ukraine wird bis zur vollständigen Niederlage Russlands weitergehen.“
Selbst Putins „Bluthund“ ärgert sich öffentlich
So viel offene Kritik war in Russland selten. Sogar Putins „Bluthund“ Ramsan Kadyrow beteiligt sich inzwischen daran. Der Tschetschenen-Führer kündigte an, nach Moskau zu kommen, um sich über die russische Militärspitze und ihre Strategie zu beschweren. Seine Kämpfer soll er inzwischen aus der Ukraine abgezogen haben.
Und auch die Gruppe der Oligarchen scheint genug von der Situation in Russland zu haben. Wie das „Handelsblatt“ berichtet, verhandelt u.a. Michail Fridman mit Kiew und Washington über einen Deal: Sie überweisen der Ukraine einen erheblichen Teil ihres Vermögens, im Gegenzug werden die Sanktionen gegen sie fallen gelassen. Bisher gibt es aber keine Einigung.
Viele Lokalpolitiker kritisieren Putin direkt
Nur wenige wagen es bisher in Russland, Putin direkt zu kritisieren. Eine Gruppe von Lokalpolitikern aus St. Petersburg hatte vorige Woche den Rücktritt Putins wegen „Hochverrats“ gefordert. Putins Rhetorik sei von „Intoleranz und Aggression“ durchsetzt und werfe Russland zurück in die Zeit des Kalten Kriegs, kritisierten die Unterzeichner. „Wir bitten Sie, Ihren Posten zu räumen, da ihre Ansichten und Ihr Führungsmodell hoffnungslos veraltet sind.“ Die Unterzeichner sollen inzwischen allesamt Besuch von der Polizei erhalten haben.
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Trotzdem veröffentlichte am Dienstag eine andere Gruppe aus der Hafenstadt und Moskau einen weiteren offenen Brief. „Wir glauben, dass die Handlungen von Präsident Wladimir Putin Russlands Zukunft und seinen Bürgern schaden. Wir fordern den Rücktritt von Wladimir Putin vom Amt des Präsidenten der Russischen Föderation!“ Immerhin 40 Politiker hatten sich dem Appell angeschlossen.
Die Suche nach einem Bauernopfer
Zu größeren Protesten auf der Straße ist es bisher nicht gekommen. Dass Putin momentan noch fest im Sattel sitzt, zeigte auch die Kommunalwahl vom Wochenende. Dort gewannen die Kandidaten seiner Partei „Einiges Russland“ reihenweise. Oppositionelle waren allerdings kaum zugelassen. Beobachter rechnen trotzdem damit, dass Putin bald einen prominenten Kopf entlassen könnte, um „Druck aus dem Kessel“ zu nehmen. Der Top-Kandidat ist wohl Verteidigungsminister Sergei Schoigu.