Das S-Bahn-Dilemma: Wie sicher ist der öffentliche Nahverkehr während Corona?
Es scheint paradox: Seit einer Woche befindet sich ganz Deutschland im „Lockdown Light“. Doch davon ist in den Verkehrsmitteln des HVV nur sehr wenig zu merken. Im Berufsverkehr sind wie eh und je volle Busse, U- und S-Bahnen unterwegs. Viele Fahrgäste sind verunsichert – posten Bilder auf Social-Media-Plattformen, um dort ihr Unverständnis ausdrücken. Aber wie viel Infektionsrisiko stellt der öffentliche Nahverkehr jetzt eigentlich wirklich dar?
Die öffentlichen Verkehrsmittel haben ein Vertrauensproblem, denn seit Beginn der Corona-Pandemie müssen sie sowohl mit Fahrgastschwund als auch mit fehlenden Einnahmen und der Infektionsangst kämpfen. Im HVV brachen die Fahrgastzahlen im April um bis zu 80 Prozent im Vergleich zum Vorjahr ein. Inzwischen liege der Rückgang laut der Verkehrsbehörde noch immer bei 25 bis 30 Prozent.
HVV in Hamburg: Der ÖPNV hat ein Vertrauensproblem
Der Grund dafür? Viele Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs fühlen sich nicht ausreichend vor Corona geschützt. Eine Studie des „Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt“ (DLR) kam zu dem Ergebnis, dass 25 Prozent der Befragten sich im ÖPNV unwohl fühlten. Vor allem bei Personen, die häufig den ÖPNV nutzen, sei das Unbehagen besonders stark ausgeprägt. Genauso wie bei jungen Menschen und Städtern. Für die Studie wurden 1000 Personen im Alter zwischen 18 und 82 Jahren befragt.
Ein Versuch, wieder mehr Vertrauen in den ÖPNV zu schaffen, ist die groß angelegte Marketing-Kampagne #BesserWeiter von Bund, Ländern und Kommunen, die einige Tage vor dem aktuellen Lockdown gestartet wurde. Schon zu diesem Zeitpunkt brachen die Corona-Neuinfektionen in Deutschland immer weiter Rekorde. „Auch in Zeiten von Corona gibt es zum Wiedereinstieg in Bus und Bahn viele gute Gründe und objektiv betrachtet auch keinen Anlass zur Sorge“, heißt es in einem Pressetext des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV).
Öffentliche Verkehrsmittel und Corona: Berufung auf RKI Studie
Ein Ansatz, den sowohl die Hochbahn AG als auch die S-Bahn Hamburg und die Verkehrsbetriebe Hamburg-Holstein (VHH) teilen. Sie alle berufen sich auf die Studie des RKI, nachdem lediglich 0,2 Prozent der Ansteckungen auf den ÖPNV zurückzuführen sind. Allerdings heißt es dort auch: „In einigen Umfeldern, beispielsweise im Bahnverkehr, lassen sich Ausbrüche jedoch nur schwer ermitteln, da in vielen Fällen die Identität eines Kontaktes im Nachhinein nicht mehr nachvollziehbar ist. Diese könnten deshalb unerfasst sein.“
Ein Sprecher der Deutschen Bahn versicherte, dass man keine Bedenken haben müsse. Alle Züge der S-Bahn Hamburg würden täglich desinfiziert, zusätzlich seien mobile Reinigungsteams im Einsatz. „Außerdem werden die Wagen im Minutentakt gelüftet“, so der Sprecher zur MOPO. „In den Zügen der Baureihe 490 ist es außerdem möglich, alle Türen automatisch zu öffnen.“
Corona und ÖPNV: Das sagen S-Bahn Hamburg und die Hochbahn
„Es sind drei Faktoren, die für den öffentlichen Nahverkehr wichtig sind“, sagt Hochbahn-Sprecher Christoph Kreienbaum. „Das sind die Alltagsmaske, die Durchlüftung und die Aufenthaltszeit.“ Mittlerweile würden deutlich über 95 Prozent der Fahrgäste eine Maske tragen, nachdem die Bereitschaft dafür nach den Sommerferien kurzzeitig abgenommen habe. „Alle U-Bahn Türen öffnen automatisch, und so wird etwa alle 90 Sekunden gelüftet.“ Der durchschnittliche Fahrgast bleibe zwölf bis dreizehn Minuten und auch die Mitfahrer wechselten durch.
Die VHH setzen auf Trennscheiben in allen 1500 Bussen am Fahrarbeitsplatz zum Schutz des Fahrbahnpersonals. „Außerdem öffnen alle Bustüren bei Hochbahn und VHH bei jedem Halt“, so VHH-Pressesprecherin Christina Sluga. „Trotz nun sinkender Temperaturen haben sich die Verkehrsunternehmen entschlossen, an dieser Regelung festzuhalten. Hier geht Sicherheit vor Wohlfühltemperatur.“ Sluga verweist auf eine aktuelle Kundenbefragung im HVV, nach der sich 70 Prozent der Fahrgäste seit Einführung der Maskenpflicht besser geschützt fühlen.
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Hochbahn, VHH und die S-Bahn Hamburg werden auch in den kommenden Wochen zu 100 Prozent fahren. Ob es bereits einen erneuten Einbruch bei den Fahrgastzahlen seit dem „Lockdown Light“ gegeben habe, sei noch nicht klar, sagte HVV-Sprecher Rainer Vohl auf MOPO-Nachfrage. Die Zahlen würden in den kommenden Tagen erwartet.
Verluste wegen Corona: Hamburg gleicht ÖPNV-Defizit aus
Aber ob die Fahrgastzahlen in den kommenden Wochen einbrechen oder nicht: Die Hamburger Verkehrsbehörde hat angekündigt, dass dem ÖPNV in der Hansestadt alle coronabedingten Verluste bis zum Jahresende zu 100 Prozent ausgeglichen werden sollen. Derzeit gehe man nach einer Prognose des VDV von 191 Millionen Euro aus. „Das entspricht allerdings einer Schätzung vom 12. Oktober“, so Pressesprecher Dennis Krämer zur MOPO. Der Rettungsschirm werde aber auf jeden Fall die Entwicklung in den kommenden Wochen mit einschließen, die man aber noch nicht beurteilen könne.
„Der ÖPNV ist ein unverzichtbares Rückgrat der mobilen Gesellschaft und hat sich auch während der Corona-Pandemie als verlässlicher und sicherer Verkehrsträger bewährt“, so Verkehrssenator Anjes Tjarks (Grüne). Die Stadt Hamburg stellt für den Rettungsschirm 65 Millionen Euro zur Verfügung, der Rest solle durch die vom Bund bereitgestellten Regionalisierungsmittel abgedeckt werden.