MOPO-Chefreporter Olaf Wunder.
  • MOPO-Chefreporter Olaf Wunder.

Reporter auf Ahnenforschung: Die dunkle Vergangenheit meiner Familie

Die Vorstellung – ich gebe es zu – hat mir gut gefallen: Ich, der Arbeitersohn, in Wahrheit ein echter Royal! Als ich Kind war, erzählte meine Mutter diese Geschichte immer wieder: Irgendein Familienforscher habe festgestellt, dass wir verwandt seien mit dem dänischen Königshaus. Manchmal haben wir dann im Familienkreis rumgesponnen: Dass – sollten die anderen, sagen wir, 500 potenziellen Thronfolger alle eines plötzlichen Todes sterben – vielleicht am Ende ich König von Dänemark werde …

So richtig ernst genommen habe ich diese Geschichte mit der blaublütigen Verwandtschaft nie. Manchmal habe ich sie in feuchtfröhlicher Runde erzählt. Erst jetzt, im fortgeschrittenen Alter, reizt es mich, der Sache mal auf den Grund zu gehen: Ist es Quatsch oder gibt’s da wenigstens ein Fünkchen Wahrheit?

Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Ich sollte meinen Job besser nicht kündigen – denn selbst wenn in Kopenhagen die Königin stirbt, werde ich in keinem Fall ihr Nachfolger. Meine Trauer darüber hält sich allerdings in Grenzen. Noch dazu, wo mir die Erforschung meiner Familie gerade ganz neue, bisher unbekannte Verwandte eingebracht hat. Ist es nicht toll? Ich habe Familie in den USA! Michael Lemon heißt mein Cousin. Mal gucken, ob ich Mike nächstes Jahr besuche.

Onkel Wilhelm Friedrichsen war SS-Mann. Er gilt als verschollen.

Onkel Wilhelm Friedrichsen war SS-Mann in der „SS-Leibstandarte Adolf Hitler“. Er gilt als verschollen: Vermutlich ist er im März/April 1945 gefallen.

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Alles hat vor vier Monaten angefangen. Da stieß ich auf „Ancestry“ (zu Deutsch: Abstammung). So heißt die größte Online-Plattform für Ahnenforschung weltweit. Zwei Studenten aus dem US-Bundesstaat Utah gründeten die Firma 1996. Weltweit 15 Millionen Kunden nutzen die Dienstleistung inzwischen: lauter Leute, die wissen wollen, wo ihre Wurzeln, wer ihre Vorfahren sind. So wie ich.

Mein Vater musste nach dem Krieg flüchten

Mein Vater ist Flüchtling, war 16, als er 1946 mit seinen Eltern aus Pommern in den Westen kam. Sie hatten kaum mehr bei sich als das, was sie auf der Haut trugen. Ein paar Fotos, das ist alles, was von der „Heimat“ übrig ist. Viele Menschen, die da abgebildet sind, kenne ich nicht mal. Und meinen Vater kann ich nicht mehr fragen.

Großvater Bernhard Friedrichsen (1902-76) in Polizei-Uniform

Großvater Bernhard Friedrichsen (1902-76) in Polizei-Uniform

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Die Familie mütterlicherseits stammt aus Flensburg. Mein Großvater war Tischler. Ich war zwölf Jahre alt, als er starb. Zu jung, um all die Fragen zu formulieren, die ich ihm heute stellen würde.

Auf der Suche nach den Wurzeln des Stammbaums

Also versuche ich jetzt mit „Ancestry“ meinen Vorfahren auf die Spur zu kommen. Dazu lege ich auf der „Ancestry“-Seite erst einmal einen persönlichen Stammbaum an und trage alle Vorfahren ein, von denen ich weiß. Das sind nicht allzu viele. Ich bekomme – und auch das nur mithilfe meiner Mutter – von einem guten Dutzend Personen Namen und Lebensdaten zusammen.

Vater Wilhelm Wunder vor dem Bauernhof seines Vaters in Pommern

Vater Wilhelm Wunder vor dem Bauernhof seines Vaters in Pommern

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Heute, vier Monate später, umfasst mein Stammbaum 787 Ahnen. Ich kann meine Familie jetzt bis 1609 zurückverfolgen, also zurück bis vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Damit hätte ich nicht gerechnet. Aber „Ancestry“ macht tatsächlich einiges möglich.

„Ancestry“-Datenbank umfasst 24 Milliarden Aufzeichnungen

Wie das funktioniert? „Ancestry“ arbeitet weltweit mit Archiven zusammen und digitalisiert Geburts-, Sterbe- und Heiratsurkunden, Passagier-, Ein- und Auswanderungslisten, Kirchenbücher, Verlustlisten und Militärregister, nicht zu vergessen historische Telefon- und Adressbücher. Die Datenbank von „Ancestry“ umfasst 24 Milliarden Aufzeichnungen über längst verstorbene Menschen. Und es werden laufend mehr.

Jeder Name, den ich in meinen Stammbaum eintrage, wird automatisch abgeglichen mit der Datenbank. Gibt es Treffer, erscheint ein grünes Blatt. Dieses Symbol bedeutet: Ihr Stammbaum hat einen neuen Trieb, sprich: ein neuer Vorfahre ist gefunden! Einmal draufklicken, und ich erfahre, wie die Eltern meiner Großmutter hießen und wer deren Eltern und Geschwister waren usw. Sogar die gescannten Originaldokumente kann ich mir anschauen: Plötzlich habe ich ein Schriftstück vor Augen, das die Unterschrift meines Urgroßvaters Wilhelm Wunder trägt, der am 10. April 1902 beim Standesbeamten in Alt Järshagen in Pommern die Geburt seiner Tocher Erna Minna Martha Wunder anmeldet. Übrigens: das Kind – meine Großtante – stirbt im Alter von nur fünf Monaten.

Die Vorfahren meines Vaters waren Bauern in Pommern

Die Daten, die „Ancestry“ für mich zusammenträgt, verraten eine Menge: Beispielsweise, dass väterlicherseits alle meine Vorfahren Bauern waren, ansässig in einem Dorf namens Grupenhagen in Pommern, ganz in der Nähe der Ostsee-Hafenstadt Rügenwalde. Der älteste Vorfahre, auf den ich stoße, ist ein gewisser Peter Wunder, mein Urururgroßvater, der um 1810 geboren wurde, eine Anna Griebenow ehelichte und einen Sohn mit ihr hatte: Friedrich Wilhelm Wunder (1830-1909).

Olaf Wunder und sein älterer Bruder Axel

Olaf Wunder und sein älterer Bruder Axel

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Weiter in die Vergangenheit zurück komme ich väterlicherseits nicht. Grupenhagen liegt heute in Polen. Sicher sind Unterlagen im Krieg zerstört worden, auf jeden Fall hat „Ancestry“ nichts digitalisiert. Deshalb endet hier die Spur.

Die Familie meiner Mutter lässt sich weit verfolgen

Sehr viel erfolgreicher ist meine Forschung bei der Familie mütterlicherseits. Meine Zeitreise in die Vergangenheit führt mich zurück bis zum siebenfachen Urgroßvater, der – nicht beneidenswert – während der Wirren des Dreißigjährigen Krieges lebte. Alle Vorfahren waren in Schleswig-Holstein ansässig, viele in Angeln, manche in Dithmarschen. Immer wieder taucht Flensburg auf, wo auch meine Mutter geboren ist. Die meisten meiner Vorfahren waren kleine Bauern (Hufner nannte sich das) oder Handwerker. Manche hatten dänische Nationalität – was nicht ungewöhnlich ist, wo doch Schleswig-Holstein jahrhundertelang vom dänischen König regiert wurde. Der Hinweis aber, dass ich mit eben diesem König verwandt bin, nein, der findet sich nicht.

Ein Teil des Stammbaums, der mit Hilfe von "Ancestry" erstellt wurde

So sieht ein Teil des Stammbaums aus, den MOPO-Reporter Olaf Wunder mit Hilfe von „Ancestry“ erstellt hat.

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Wer damit beginnt, seine Familiengeschichte zu erforschen, muss sich darauf einstellen, dass sich Legenden in Luft auflösen. Und dass Dinge ans Licht kommen, die er lieber nicht erfahren hätte. Klar fände ich es toll, meine Großeltern wären glühende Hitler-Gegner gewesen, hätten vielleicht sogar mitgemischt beim Hitler-Putsch 1944 oder so. Aber das Gegenteil ist der Fall. Bernhard Friedrichsen (1902-1976), mein Großvater, war Nazi. Mindestens Mitläufer. Er war in Hitlers SA-Truppe und im Krieg als Oberwachtmeister einer Polizeidivision in Slowenien im Einsatz – auf Partisanenjagd. Es gibt einen Brief von ihm, den er 1944 in die Heimat sandte: „Unser Einsatzgebiet ist ein von Banden verseuchtes Gelände mit vielen Bergen und Wäldern“, schreibt er. „Es haben schon viele Kameraden durch feigen Überfall der Banditen ihr Leben lassen müssen.“

Ein dunkler Fleck in meinem Stammbaum

Ein weiterer dunkler Punkt in meinem Stammbaum: der Sohn meines Großvaters – der älteste Bruder meiner Mutter. Wilhelm Friedrichsen, geboren 1925, war Angehöriger der „SS-Panzer-Divison Leibstandarte Adolf Hitler“ – einer Truppe, der viele Kriegsverbrechen zugeschrieben werden. Aus dem Krieg ist mein Onkel nicht mehr zurückgekommen. Er gilt seit 1945 als vermisst. Laut DRK-Suchdienst ist er vermutlich zwischen Mitte Februar und Mitte März 1945 im deutsch-französischen Grenzgebiet gefallen und seine Leiche irgendwo verscharrt worden.

Je länger ich mich mit meiner Familie beschäftigte, desto süchtiger werde ich. Ich will immer mehr wissen von meinen Vorfahren: Inzwischen telefoniere ich regelmäßig mit meiner Mutter, frage sie aus. Plötzlich erinnert sie sich an Details, die ihr längst entfallen waren. Etwa daran, was dieser oder jener Urahn von Beruf war. Und natürlich erzählt sie mir auch von ihrem Bruder, dem SS-Mann. „Eigentlich wollte Willi zur Marine. Der NSDAP-Ortsgruppenführer Samuelsen, der ist schuld! Der hat dafür gesorgt, dass Willi zur Waffen-SS kam, gegen seinen Willen.“ Warum? „Als Strafe! Samuelsen hatte ihn dabei ertappt, dass er eine Zigarette rauchte – einen Tag vor seinem 18. Geburtstag. Erst ab 18 durfte man damals rauchen.“

Eine Ahnin von Olaf Wunder

Eine Ahnin von Olaf Wunder. 1946 war die Familie von Pommern nach Westen geflohen.

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Wieder Legende? Nein, ich glaube die Geschichte mal. Es geht mir besser dabei.

Zurück zu „Ancestry“. Die Firma bietet neben ihrer monströsen Datenbank eine weitere Möglichkeit, Verwandte zu finden: mithilfe eines DNA-Tests. Ich frage mich: Soll ich wirklich einer privaten Firma in den USA mein Genmaterial geben? Was macht die damit? Kann das irgendwann mal gegen mich verwendet werden?

Nur wenige Fotos aus der Zeit vor der Flucht sind erhalten. Teilweise ist nicht bekannt, wer abgebildet ist.

Ein Bild aus Pommern. Nur wenige Fotos aus der Zeit vor der Flucht sind erhalten. Teilweise ist nicht bekannt, wer abgebildet ist.

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Es gibt durchaus ernst zu nehmende Kritiker, die warnen. 2019 erhielt „Ancestry“ den deutschen „Big Brother Award“, eine Negativ-Auszeichnung. In der Begründung heißt es, „Ancestry“ nutze das Interesse an Familienforschung dazu aus, um Menschen zur Abgabe einer Speichelprobe zu bewegen, und mache so Geschäfte mit Gen-Daten.

„Ancestry“ räumt Datenschutz-Bedenken aus

„Ancestry“ widerspricht energisch, gelobt hoch und heilig, keine Daten an Pharmaunternehmen, Versicherer, Arbeitgeber oder Drittvermarkter weiterzugeben. Die sogenannte DNA-Matching-Funktion könne ausgeschaltet werden und die Ergebnisse der Speichelprobe würden auf Wunsch wieder gelöscht.

Olaf Wunders Familie väterlicherseits in Pommern. 1946 floh die Familie.

Olaf Wunders Familie väterlicherseits in Pommern. 1946 floh die Familie.

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Was mich überzeugt: „Ancestry“ arbeitet mit namhaften Archiven zusammen, mit der Deutschen Nationalbibliothek, dem Bundesarchiv, dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt, den Arolsen Archives, einem Archiv mit Daten zu NS-Opfern. Deshalb stelle ich meine Bedenken hintan – und spucke in das Röhrchen.

Aus diesen Regionen stammen meine Gene

Bereut habe ich es bisher nicht. Und stattdessen viel Neues über mich erfahren. Etwa, dass meine Gene zu 63 Prozent den deutschsprachigen Regionen zuzuordnen sind, zu 33 Prozent Schweden, zu zwei Prozent Osteuropa und zu zwei Prozent Norwegen. Vielleicht sollte sich der eine oder andere Rechtsextremist, der glaubt, er sei ein reinrassiger Arier, auch mal einem solchen Test unterziehen …

Michael Lemon (mit Frau und Kindern) aus Phoenix/Arizona.

Olaf Wunder stieß auch auf neue Verwandte: Michael Lemon (mit Frau und Kindern) aus Phoenix/Arizona.

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Noch mehr ist möglich mithilfe der DNA: „Ancestry“ vergleicht meine Gene mit den Genen all der anderen „Ancestry“-Kunden weltweit – und listet mir dann sämtliche Personen auf, bei denen die DNA mehr oder weniger große Übereinstimmung aufweist. Plötzlich gibt es 96 noch lebende Menschen, die mit mir – zugegebenermaßen sehr entfernt – verwandt sind. Auf einer Weltkarte kann ich sogar sehen, wo sie ansässig sind: in meinem Fall alle in den USA.

Mein Verwandter in Arizona

Die Länge der Abschnitte, in denen die DNA identisch ist, wird in Centimorgan (cM) gemessen. Ein gewisser Mike Lemon aus Phoenix/Arizona hat mit mir 44 cM DNA gemeinsam – er ist mein Cousin 4. Grades. „Meine Mutter ist 1941 in Flensburg geboren und sie ist noch am Leben“, schreibt er, nachdem ich mit ihm Kontakt aufgenommen habe. Er – von Beruf ist er Vizepräsident eines großen Unternehmens – freut sich, einen neuen Verwandten gefunden zu haben. Und ich freue mich auch.

Nicht unumstritten: der DNA-Test, den „Ancestry“ anbietet

Nicht unumstritten: der DNA-Test, den „Ancestry“ anbietet

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Mike erzählt: „Meine Großmutter war Opernsängerin und wanderte mit ihren beiden Töchtern 1951 in die USA aus.“ Seiner nächsten Mail hängt er etliche Fotos an – ein Bild von der Hochzeit seiner Großmutter in Flensburg beispielsweise. Mike schickt auch ein Foto, das ihn mit Ehefrau und Kindern zeigt. Sehr sympathisch. Wir beschließen, in Kontakt zu bleiben.

Vor vier Monaten, als ich mit der Familienforschung begann, wusste ich so gut wie nichts über meine Familie. Heute habe ich einen Stammbaum so groß, dass er manchem Adelsgeschlecht zur Ehre gereichen würde. Ich höre aber trotzdem noch lange nicht auf. Ich werde weiter forschen. Vielleicht finde ich sie ja doch noch: die Verbindung meiner Familie zum dänischen Königshaus.

So funktioniert „Ancestry“

Wer sich ebenfalls auf die Suche nach seinen Vorfahren machen will, der zahlt an „Ancestry“ (www.ancestry.de) 9,99 Euro pro Monat und hat damit Zugriff auf die 660 Millionen deutschsprachigen Dokumente in der Datenbank. Die Mitgliedschaft International Deluxe mit Zugriff auf alle 24 Milliarden Dokumente weltweit kostet 59,99 Euro für sechs Monate. Und der DNA-Test, der dem Mitglied zeigt, wo auf der Welt seine Vorfahren leben, kostet 69 Euro zzgl. Versandkosten. Ein Tipp: Besucher des Museums BallinStadt auf der Veddel können die Ancestry-Datenbank vor Ort kostenlos nutzen.

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