Experten streiten über Lockerungen: Ist die Angst vor Corona unbegründet?
Ist die Corona-Pandemie in Wirklichkeit doch gar nicht so schlimm? Sind die massiven Beschränkungen zur Eindämmung der Krankheit übertrieben? Während einige Mediziner Covid-19 für weit weniger gefährlich halten als bislang angenommen und weitere Lockerungen fordern, warnen andere genau davor: Sie fürchten, dass die Situation bald völlig außer Kontrolle geraten könnte.
Klaus Püschel, der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am UKE, geht davon aus, dass sich die Corona-Pandemie in den Sterbe-Statistiken 2020 kaum bemerkbar machen würde. Denn: Alle von ihm untersuchten Hamburger Corona-Toten waren bereits sehr alt – im Schnitt fast 80 Jahre – und hatten schwere Vorerkrankungen wie Herz-Kreislauf-Leiden, Lungen-Schädigungen oder Krebs.
Hamburger UKE-Experte Püschel fordert schnelle Lockerung
„Es waren Menschen, die im Altenheim oder in Krankenhäusern darniederlagen und von der Infektion noch zusätzlich niedergedrückt wurden“, sagte der Rechtsmediziner dem „Abendblatt“. „Stark vereinfacht kann man auch formulieren, dass mit dem Ableben in absehbarer Zeit zu rechnen war.“
Die Covid-19-Infektion sei dann nur einer von vielen Faktoren gewesen, die den Tod des Patienten verursacht hätten. Seine Forderung: Schnell die Kontaktbeschränkungen lockern und vor allem Kitas wieder öffnen.
Corona-Pandemie: RKI berichtet von Übersterblichkeit in vielen Ländern
Eine Sache lässt allerdings vermuten, dass Corona nicht nur bei denjenigen zum Tode führt, die ohnehin bald gestorben wären: Die sogenannte Übersterblichkeit, also eine höhere Zahl an Todesfällen als in einem Land oder einer Region normalerweise zu erwarten wäre.
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„Einige Länder haben eine deutliche Übersterblichkeit“, so der Vizepräsident des Robert Koch-Instituts, Lars Schaade, am vergangenen Freitag in Berlin. „So zum Beispiel Italien, Frankreich und Spanien. Sie war bereits Mitte und Ende März zu verzeichnen. Man sieht sie bei den über 65-Jährigen, aber auch bei den 15- bis 65-Jährigen“, sagte Schaade. Die Sterblichkeit liege auch „höher als bei Grippewellen.“
Corona: Sterberate in vielen Ländern höher als normal
Bezogen auf alle Altersgruppen in ganz Europa lag die Sterberate in der Woche vor Ostern (Kalenderwoche 15) um fast 35 Prozent höher als normal. In Schweden, das anfangs mit sehr laxen Beschränkungen auf die Pandemie reagiert hatte, ist die Sterberate laut der Webseite Euromomo.eu sehr stark angestiegen, während die Nachbarländer Norwegen und Finnland überhaupt keinen Anstieg verzeichnen.
„Wir stehen immer noch am Anfang der Pandemie, das vergessen viele“, sagt auch die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig gegenüber dem „Spiegel“. „Die Regierung hat mit den Lockerungen nun ein falsches Signal gesendet und ich befürchte, dass viele das Virus jetzt nicht mehr so ernst nehmen und wieder mehr Kontakte treffen.“ Dann wäre der Erfolg der bisherigen Eindämmungsmaßnahmen zunichte gemacht.
Schwerer Corona-Verlauf kann auch Nieren, Herz und Hirn schädigen
Vor den Folgen der Lockerung der aktuellen Beschränkungen warnt auch der SPD-Gesundheitsexperte Dr. Karl Lauterbach. Als studierter Epidemiologe kennt er sich mit Krankheiten wie Covid-19 und deren Folgen besonders gut aus.
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„Die Pandemie ist schrecklich“, sagt er im Interview mit der „taz“ und verweist auf befreundete Ärzte in New York, die „die schlimmsten Tage ihrer Laufbahn“ erleben würden. „Covid-19 ist eine heimtückische, widerliche Erkrankung, die die Lunge, die Nieren, das Gefäßsystem und das Herz befällt und wahrscheinlich auch bei den schweren Verläufen wegen der langen Beatmung kognitive Einschränkungen hinterlässt, bis zur späteren Demenz.“
Experten warnen vor zweiter Corona-Welle
Wenn die Infektionszahlen wieder stark zunähmen, so Lauterbach weiter, wäre auch das deutsche Gesundheitssystem überfordert. Und das könnte passieren, wenn durch die Lockerungen eine zweite Infektionswelle losginge, vor der auch der führende Virologe Christian Drosten warnt.
„Die zweite Welle sähe so aus: Mit den jetzigen Maßnahmen könnten wir das erneute exponentielle Wachstum nicht stoppen“, so Lauterbach im „taz“-Interview weiter. „Die vielen neuen Infektionsherde ließen sich nicht mehr nachverfolgen, weil hierfür das Personal fehlt und es zu viele Quellen sind.“
Lauterbach: Wenn Corona-Lockerungen zu früh kommen, was alles umsonst
Die Folgen wären verheerend: Die intensivmedizinischen Kapazitäten wären am Limit, die bisherigen Lockerungen müssten wieder zurückgenommen werden – und alle bisherigen Maßnahmen wären völlig umsonst gewesen.
Lauterbach: „Wir hätten viel Geld ausgegeben, wären aber exakt wieder da, wo wir schon einmal waren. Die vielen Entbehrungen der letzten Wochen, die Opfer, die wir gebracht haben, sie alle hätten zu gar nichts geführt.“ (mp)