Synagoge war Wiege des liberalen Judentums: Neue Pläne für Hamburger Ruine
Eine löchrige Wand und der Rest eines Gewölbes – das ist alles, was von der 1844 erbauten Synagoge an der Poolstraße (Neustadt) übrig geblieben ist. Seit die Stadt Hamburg das Grundstück samt Ruine vor zwei Jahren aus Privatbesitz zurückkaufte, ist nicht viel geschehen. Es droht der Verfall. Dabei sind die Tempel-Reste ein wahrer Schatz: Die frühere Synagoge an der Poolstraße gilt als Wiege des liberalen Judentums! Nun gibt es gibt es Pläne zu ihrer Rettung.
Man schrieb das Jahr 1817, als es einer Gruppe junger Hamburger Juden reichte. Sie hatten genug von den strengen Regeln und starren Bräuchen, die das Judentum damals seit dem Mittelalter prägten. Für die 65 Männer stand all das im Widerspruch zu den Gedanken der Aufklärung, die sie und ihren Alltag in der freien Stadt Hamburg längst prägten.
Hamburg 1817: Neuer israelitischer Tempelverein gegründet
Man müsste das doch verbinden – die jüdische Tradition mit dem Universalismus der deutschen Aufklärung. So der Gedanke. Und so wurde am 11. Dezember der Neue Israelitische Tempelverein mit dem Ziel einer Synagogenreform gegründet.
Bei den Orthodoxen in der Gemeinde stießen diese Pläne auf starken Widerstand. Doch für den Bau einer eigenen Synagoge fehlte den jungen Rebellen das Geld. Sie mieteten Räume in der Neustadt an, um dort ihre Gottesdienste abzuhalten. Gottesdienste, in denen zur Empörung der Orthodoxen eine Orgel zum Einsatz kam, in denen auf Deutsch statt auf Hebräisch gepredigt wurde und in denen überdies auch noch Männer und Frauen gemeinsam im Chor sangen! Dieser Bruch mit der Vergangenheit war die Geburtsstunde des modernen Reformjudentums.
In den folgenden Jahren wurden fleißig Spenden gesammelt – bis 1842 der Grundstein für die Synagoge in der Poolstraße 12-13 gelegt werden konnte. 1844 wurde das Gotteshaus mit seiner Architektur aus sowohl maurischen als auch klassizistisch-neogotischen Elementen feierlich eröffnet. Die Liberalen sprachen von ihrem „Tempel“, was vorher undenkbar gewesen wäre, da das Wort allein mit dem zerstörten Hauptheiligtum in Jerusalem verbunden gewesen war.
Synagoge Poolstraße: Trennung zwischen Geschlechtern weitgehend aufgehoben
Und noch etwas war neu in der Poolstraße mit ihren 640 Sitzplätzen: Männer und Frauen betraten die Synagoge durch einen gemeinsamen Eingang. Zwar saßen die Frauen drinnen noch immer getrennt auf der Empore. Doch erstmals war ein Blickkontakt möglich – auf das traditionelle Sichtschutzgitter wurde verzichtet. Zum Klang der Orgel wurde gemeinsam gesungen. Die Predigten beschäftigten sich nicht mehr wie bei den Orthodoxen mit der korrekten Anwendung der jüdischen Gesetze. Stattdessen ging es um moralische Fragen, die jeden betrafen. Männer wie Frauen.
„In der Poolstraße wurde die Trennung zwischen den Geschlechtern aufgehoben“, erklärt Michael Meyer, Professor für Jüdische Geschichte am Hebrew Union College in Cincinatti (USA) und früherer Direktor des Leo Baeck Instituts. „Der Tempel brachte den Gedanken der Gleichberechtigung innerhalb des Judentums einen wichtigen Schritt nach vorne. Hier wurde ein Prozess angestoßen, der schließlich im 20. Jahrhundert zur Ordination von Frauen als Rabbinerinnen führen sollte.“
Ende des 19. Jahrhunderts verlor die Poolstraße nach und nach ihre zentrale Bedeutung für die liberalen Juden. Viele wandten sich von der Neustadt ab. Das Leben im alten Judenviertel war ihnen zu eng und ärmlich geworden. Nach Aufhebung der Torsperre 1861 war am Grindel ein neues Judenviertel entstanden. Dort errichteten die Orthodoxen 1906 die Hauptsynagoge am Bornplatz.
Zweiter Weltkrieg: Synagoge Poolstraße von einer Bombe getroffen
Der Tempelverband beschloss, seine Synagoge ebenfalls in Richtung Alster zu verlegen und ließ in den 1920er Jahren ein modernes Haus im Stil des „Neuen Bauens“ an der Oberstraße in Harvestehude errichten, das 1931 eröffnet wurde. Doch seine Zeit als liberaler, jüdischer Tempel währte nur kurz: Beim Novemberpogrom wurde die Reformsynagoge in der Oberstraße geschändet und musste danach zwangsverkauft werden. Heute gehört das Gebäude dem NDR.
Die Synagoge an der Poolstraße, die zuletzt 1931 für einen Gottesdienst genutzt worden war, wurde 1937 weit unter Wert an eine Privatperson verkauft. Weil sie nicht mehr als jüdisches Gotteshaus genutzt worden war, überstand sie die Pogromnacht. Nicht jedoch den Krieg: 1944 traf eine Bombe das Haus. Nur der Eingang, eine Seitenwand und die Apsis blieben stehen.
Nach dem Krieg stellte die Jewish Trust Corporation einen Restitutionsantrag, der 1954 in einem Vergleich mit dem Käufer der Poolstraße mündete. Danach wurde die Hinterhoffläche von einer Autowerkstatt, einer Goldschmiede und einer Schlosserei gewerblich genutzt. Die Synagogen-Ruine war der Witterung schutzlos ausgesetzt und verfiel.
Ruine der Synagoge Poolstraße steht kurz vor dem Verfall
Erst als die Kulturbehörde die Tempel-Reste 2003 unter Denkmalschutz stellte, war der Eigentümer zu Erhaltungsmaßnahmen verpflichtet. Ein Baum, der bereits durchs Dach gewachsen war, wurde entfernt, die Apsis mit einer Stützmauer versehen, ein Notdach angebracht. Im Dezember 2020 kaufte die Stadt Hamburg das Hinterhofgelände samt Ruine und versprach die Erstellung eines Nutzungskonzepts.
Das liegt jedoch noch immer nicht vor. Denkmalschützer und Architekten mahnen angesichts des fortschreitenden Verfalls zu dringenden Sanierungsmaßnahmen. Was die Stadt mit der Poolstraße vorhat, bleibt offen. Professor Michael Meyer mahnt: „Es erscheint mir sehr wichtig, dass dieser Ort nicht aufgegeben wird und verfällt.“
Meyer betont die historische Bedeutung der Poolstraße. In Richtung des Senats erklärt er: „Ich hoffe, dass die Behörden in Hamburg es für angebracht halten, hier etwas zu schaffen, das für Juden und Nichtjuden gleichermaßen attraktiv ist.“ So wäre die Poolstraße als Begegnungsstätte denkbar wie auch als Zuhause für eine liberale jüdische Gemeinde.
Liberale Jüdische Gemeinde in Hamburg fordert Restitution der Synagoge Poolstraße
Genau damit stößt der Professor bei der Liberalen Jüdischen Gemeinde, Israelitischer Tempelverein, auf offene Ohren. Der Verein, der sich 2004 von der orthodox geprägten Einheitsgemeinde abgespalten hat, sieht sich selbst als einziger legitimer Nachfolger der Liberalen Jüdischen Gemeinde von 1817, feiert am Sonntag sein 205-jähriges Jubiläum und fordert seit langem ein eigenes Gotteshaus.
Gerade angesichts der Pläne zur Wiedererrichtung der orthodoxen Bornplatzsynagoge fühlt sich der Tempelverein von der Stadt ignoriert. „Bei der Machbarkeitsstudie zur Bornplatzsynagoge hätte der Bedarf aller jüdischen Gemeinden Hamburgs berücksichtigt werden müssen“, kritisiert der zweite Vorsitzende Eike Steinig. Denn Steinig und seine rund 330 Glaubensbrüder und -schwestern müssen seit Jahren mit einer Turnhalle in der Flora-Neumann-Straße vorlieb nehmen, die ihnen auch nicht immer zusteht, so dass sie mit der Tora-Rolle im Gepäck ständig nach neuen Lösungen suchen müssen. Eine Unterbringung im Betty-Heine-Saal des früheren Israelitischen Krankenhauses an der Simon-von-Utrecht-Straße (St. Pauli), wie zuletzt von der Stadt vorgeschlagen, lehnt Steinig wegen Sicherheitsbedenken ab.
Möglicherweise sind die Spannungen zwischen der Jüdischen Gemeinde, die seit 2016 einen eigenen liberalen Flügel aufgebaut hat, und dem Tempelverein der Grund für die Zurückhaltung des Senats. Um den Alleinvertretungsanspruch der Einheitsgemeinde aufzuweichen, hat der Tempelverein vergangenes Jahr die Eintragung als Körperschaft öffentlichen Rechts und die Aufnahme in den Staatsvertrag beantragt.
Liberale Jüdische Gemeinde bittet Bundesregierung um Hilfe
Doch passiert ist nichts. Mehrfache Nachfragen ließ der Senat unbeantwortet. Deshalb hat der Tempelverein sich nun an die Bundesregierung gewandt. In einem Schreiben an Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), das der MOPO exklusiv vorliegt, beklagt der Verein die „einseitige Förderung der orthodox dominierten Jüdischen Gemeinde Hamburg“. Und: „Eine Restitution der Poolstraße an unsere Gemeinde wird vom Senat, trotz der historischen Verantwortung der Stadt Hamburg, bisher nicht in Betracht gezogen.“
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Steinig und die erste Vorsitzende Galina Jarkova bitten die Innenministerin, „eine Lösung auf Bundesebene zu finden, denn wir sind nicht irgendeine Gemeinde, sondern die Muttergemeinde es weltweiten Reformjudentums“.
Was auch immer aus der Poolstraße wird: Noch besteht die Chance, aus ihr ein Symbol für die Vielfalt jüdischen Lebens in Hamburg zu machen. Einen lebendigen Ort, den es so noch nicht gibt.