Muttertags-Heldin: Kerstin Held schafft ein Zuhause für besondere Kinder
Köln –
Selbstgebackener Kuchen, eine getöpferte Vase, ein Blümchenbild. Millionen Frauen freuen sich am Muttertag über eine kleine Aufmerksamkeit ihrer Kinder. Für Kerstin Held ist es das größte Geschenk, wenn Jonathan lächelt, sobald sie in seine Nähe rückt.
Wenn Cora, die als Autistin Körperkontakt meidet, ihre Hand ergreift. Sie ist die Herzensmama für schwerst pflegebedürftige Kinder, bietet ihnen dass, was ihnen in einem Heim fehlen würde: Liebe.
Mama Held, wie schaffen Sie das nur?
Als „normale“ Mütter, die schon an einem renitenten Teenie verzweifelt, fragt man sich bei dieser Mammutaufgabe: Mama Held, wie schaffen Sie das nur? Ja, wie? Dafür muss man vermutlich ein Powerpaket sein wie Kerstin.
44 Jahre ist sie, stolz auf ihre Tattoos und ihr freches Mundwerk. Eine Ausdauerkämpferin für die schwerstbehinderten Kinder in unserer Gesellschaft, die bis dato vom Staat nur unter „ferner liefen“ registriert werden. Die selbst nie Kinder geboren hat, aber jedes ihrer Pflegekinder, zwölf waren es in den vergangenen 20 Jahren, 4 sind es aktuell, liebt wie ein eigenes.
Kerstin ist eine „Herzensmama“
„Ich sage immer: Die anderen sind die Bauchmamas, ich bin die Herzensmama.“ Und das meint sie keineswegs despektierlich den leiblichen Eltern gegenüber. Sie könne es gut verstehen, wenn Eltern sich mit der Pflege eines schwerstbehinderten Kindes völlig überfordert fühlen würden.
Kerstin ist von klein auf mit ihrer behinderten Schwester aufgewachsen und hat so einen ganz natürlichen Zugang zu Menschen mit Behinderung. Ihr Credo: „Pflegeeltern wie ich sind der Plan B“ – auch wenn die Frage im Raum steht, ob man sich für eine Spätabtreibung entscheiden wolle.
Pflegemutter als Konkurrenz für die leibliche Mutter?
„Es ist doch ein Zeichen von Liebe, wenn Eltern die Kinder dann nicht ins Heim geben, sondern zu einer anderen Mutter, einer Pflegemutter.“ Sie glaubt, viele entschieden sich für ein Heim, weil es neutralisiere, weil sie die Pflegemutter als Konkurrenz empfinden würden.
„Die Eltern, die ihre Kinder in eine Pflegefamilie geben, wollen das bestmögliche für ihr Kind. Und das bietet sie ihren Kindern!
Viel Geduld und Liebe ist nötig
Da ist zum Beispiel Cora, sie ist Autistin. Cora schlägt, spuckt und beißt, wenn man ihr zu nahe kommt. Aber zu Kerstin hat sie im Laufe der Jahre so viel Vertrauen aufgebaut, dass sie sogar ihre Hand nimmt und zur Musikanlage zieht.
„Ich habe entdeckt, dass sie ein absoluter Sarah Connor-Fan“ ist, schmunzelt Kerstin. „Da gibt’s für sie kein Halten mehr. Das Konterfei der Sängerin ziert sogar ihren Rollstuhl“.
Die Folgen von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft
Dann ist da Erik, er hat das Fetale Alkoholsyndrom durch Alkoholeinfluss in der Schwangerschaft. Wenn man ihm seine schwere Beeinträchtigung auch nicht sofort anmerkt, so ist sie elementar für den Alltag.
„Manchmal ist es putzig, manchmal ist es nervig, wenn ich in dem Moment alles stehen und liegenlassen muss, weil er sich ein Spiel in den Kopf gesetzt hat oder ich unbedingt seinen Roboter reparieren muss.“ Wie während des Telefonats mit uns – aber Kerstin bleibt die Ruhe in Person.
Frühchen auf Entzug
Da ist Richard, den man nach seiner Geburt eher zufällig in einem Bordell fand – mit 2,4 Promille Alkohol im Blut. Seine Mutter wurde wohlmöglich Zwangsprostitution gezwungen und wurde Alkohol- und Drogenabhängig.
Der kleine Richard überlebte seine Frühgeburt mit einem schweren Entzug. Sicherlich, ein Extrem -, aber kein Einzelfall. “Wir sprechen in Deutschland von 13.000 Kindern pro Jahr, die durch den Alkohol in der Schwangerschaft mit physischen, psychischen oder mehrfachen Behinderungen auf die Welt kommen. Dafür braucht es nicht viele Gläser Prosecco“, ärgert sich Kerstin Held über den Leichtsinn mancher Schwangeren und die mangelnde Aufklärung in unserer Gesellschaft.
Richard kann bald, entgegen aller Erwartungen, mit einer Pflegefachkraft zur Schule gehen. Auch wenn er 24 Stunden am Tag an einen Sauerstoffschlauch gebunden ist.
Jonathan wird nie sehen, hören und schlucken können
Und da ist Jonathan, der fast am plötzlichen Kindstod gestorben wäre. Die Ärzte hatten ihm wenig Überlebenschance gegeben. Er würde angeblich niemals sehen, hören oder selbstständig schlucken können, wird per Magensonde ernährt.
„Manchmal reißt er die Augen weit auf, wenn er wieder Angst vor dem Ersticken hat“, erzählt Kerstin Held wie vielleicht andere Mütter, dass der Nachwuchs noch nicht aufs Töpfchen geht. „Aber Jonathan ist so ein unglaublicher Kämpfer. Und ich weiß genau, er registriert viel mehr, als die meisten annehmen.“
Kerstin Held wird von Pflegekräften unterstützt
Natürlich schafft sie es nicht allein, rund um die Uhr für die Kinder da zu sein. Mehrere Pflegekräfte arbeiten in ihrem Haus im Schichtdienst mit ihr zusammen. Gerade jetzt, in der Corona-Zeit, sei das eine besondere Herausforderung, sagt sie. Sie braucht für die Kinder und Pflegekräfte allein für 1000 Euro im Monat Schutzkleidung, Masken und Desinfektionsmittel – und muss sie aus eigener Tasche zahlen.
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Überhaupt: Alle Leistungen für die Kinder müssen „wie auf dem Basar“ ausgehandelt werden, weil diese Kinder im Gesetz nicht explizit auftauchen. Es gibt keine Regelungen für Kinder mit Behinderungen in Pflegefamilien.
„In allen vier Ecken soll Liebe drin stecken“
Gibt es in ihrem Leben überhaupt so etwas wie Freizeit – Zeit für sich allein? Sie überlegt: „Klar, freue ich mich, wenn ich mal einen “Tatort“ ungestört sehen kann. Aber, das soll jetzt nicht pathetisch klingen, eigentlich sind die Kinder mein Leben. Und alles, was dazu gehört.“
Zum Beispiel das 280-Quadratmeter-Haus in Niedersachsen: Den beliebten Poesiealbum-Spruch „In allen vier Ecken soll Liebe drin stecken“ hat Kerstin Held mehr als wörtlich genommen.
Star Wars und Disneyfiguren wie Stitch zieren den ganzen Flur, die Kinder schlafen in Dschungelbuch- und Treckerbetten, selbst Richards Sauerstoffgerät steht nicht steril im Wohnzimmer herum, sondern wirkt dank eines Krümelmonster-Überzugs wie ein plüschiger Kumpel in der Großfamilie von Mama Held.
Muttertag: Das ist Kerstins größter Wunsch!
Wir haben Kerstin Held gefragt, was Ihr größter Wunsch zum Muttertag ist. Ihre Antwort: „Dass keine Familie mit einem pflegebedürftigen Kind derzeit die maßlosen Kosten für Masken, Desinfektion und Handschuhe tragen muss. Diese Familien brauchen diese Pflegehilfsmittel immer, nur plötzlich kann man sie sich nicht mehr leisten… Corona ist nicht das einzige Virus, was das Leben meiner Kinder bedroht. Ich habe bisher 3000 Euro in den letzten drei Monaten für sichere Pflege ausgeben müssen – und bekomme vom zuständigen Sozialamt nur Rückfragen, die nicht der Realität entsprechen.“
Warum reicht die Pauschale der Pflegekasse nicht aus? „Weil diese Pauschale derzeit bei all dem neuen Bedarf durch Corona nur für genau drei Tage ausreichen würde… Ich wünsche mir außerdem, dass wir das Wort Inklusion irgendwann nicht mehr brauchen, weil es sie gibt. In aller Selbstverständlichkeit!“