Brokstedt
  • Kerzen und Blumen stehen und liegen im Bahnhof Brokstedt in einem Wartehäuschen. Bei der Messerattacke in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg waren am 25. Januar zwei junge Menschen getötet und fünf verletzt worden.
  • Foto: dpa

Mehr als 20 Verfahren in sieben Jahren: Die lange Strafakte von Ibrahim A.

Die kriminelle Vorgeschichte des Messerangreifers von Brokstedt war offenbar noch umfangreicher als bisher gedacht. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Bonn bestätigte am Dienstag, dass gegen den Mann in Nordrhein-Westfalen mehr als 20 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden seien. In NRW und in Hamburg beschäftigt sich die Politik weiter mit dem Fall von Ibrahim A.

Die meisten der Verfahren hätten eher kleinere Delikte betroffen und seien eingestellt worden. Schwere Tatvorwürfe waren demnach zum einen eine gefährliche Körperverletzung – hier sollte er einen Mann mit einer Kette geschlagen haben – und ein Verdacht auf Vergewaltigung mithilfe von K.O.-Tropfen. Aber auch diese beiden Verfahren seien eingestellt worden. Rechtskräftig verurteilt wurde der Mann in NRW demnach in drei Fällen: 2015 wegen Diebstahls, 2016 wegen gefährlicher Körperverletzung und 2018 wegen Drogenhandels. Der „Spiegel“ berichtete darüber zuerst.

Der 33-Jährige soll am Mittwoch vergangener Woche in der Regionalbahn von Kiel nach Hamburg mit einem Messer auf Fahrgäste eingestochen haben. Eine 17-Jährige und ein 19-Jähriger starben, fünf Menschen wurden verletzt. Der Angreifer war schließlich von anderen Fahrgästen überwältigt und von der Polizei auf dem Bahnhof von Brokstedt festgenommen worden.

Strafakte von Ibrahim A. ist extrem lang

A., ein staatenloser Palästinenser, war 2014 in Nordrhein-Westfalen eingereist und hatte Asyl in Düsseldorf beantragt. Bis 2021 lebte er in Euskirchen in NRW. Im Juli 2021 meldet A. sich dann bei der Kieler Ausländerbehörde. Bis November 2021 blieb er in Kiel. Auch da wurde er straffällig: In der Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge soll er andere Mitbewohner verbal und physisch angegangen sein. Die Folge: Hausverbot.

Wenig später ist er in Hamburg: A. soll am 18. Januar 2022 in der Schlange vor einer Essensausgabe für Wohnungslose mit einem Messer mehrfach auf einen Mann eingestochen haben. Als ausschlaggebend für seine Tat nannte er den Konsum verschiedenster Drogen – darunter Kokain und Heroin und Alkohol. A. kommt in Untersuchungshaft.

Am 19. Januar 2023 wurde Ibrahim A. dann freigelassen, weil die Dauer seines Aufenthalts in U-Haft dem vom Gericht verhängten Strafmaß nah kam. Eine Richterin entschied daher, den 33-Jährigen sofort freizulassen. Ein weiter andauernder Aufenthalt in Haft sei laut des Gerichtssprechers als „unverhältnismäßig“ bewertet worden. 

Senat berät über Messerattacke: „Tat wirft sehr viele Fragen auf“

Nur wenige Tage später beging A. den Messerangriff in der Regionalbahn. Seitdem beschäftigt sich auch am Hamburgs Politik mit dem Fall, am Dienstag beriet der Senat über die tödliche Attacke. Dabei sei auch der Umgang der Behörden mit dem einschlägig vorbestraften mutmaßlichen Täter erörtert worden, der wenige Tage vor der Tat aus der Untersuchungshaft in einer Hamburger Justizvollzugsanstalt freigekommen war, sagte Senatssprecher Marcel Schweitzer am Dienstag. „Diese Tat wirft sehr viele Fragen auf.“ Die Aufarbeitung des Falls geschehe länder- und in Hamburg behördenübergreifend.

Hamburgs Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) steht seit der Tat mit zwei Toten, für die ein 33 Jahre alter staatenloser Palästinenser verantwortlich gemacht wird, in der Kritik. Die Opposition wirft ihrer Behörde Versäumnisse im Zusammenhang mit der Entlassung des Tatverdächtigen aus der JVA Billwerder vor.

Hamburgs Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) dpa
Anna Gallina
Hamburgs Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne)

Gallina habe dem Senat einen Einblick „in die Recherchearbeiten“ zur Aufklärung des Falls gegeben, sagte Schweitzer. „Auch der Innensenator hat dazu Stellung genommen.“ Damit habe der Senat „einen sehr umfangreichen guten Überblick“ bekommen. Einzelheiten nannte der Senatssprecher mit Hinweis auf den Datenschutz nicht.

Kerstan nimmt Gallina in Schutz

„Die Justizsenatorin hat noch einmal deutlich gemacht, wie die Verfahren waren, nachdem der Täter aus der Untersuchungshaft entlassen wurde“, sagte Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) und betonte: „Wir haben keine Hinweise bekommen, die daran zweifeln lassen, dass hier in Hamburg nach Recht und Gesetz das Ganze behandelt wurde.“

Jetzt gehe es darum, „im Austausch mit Schleswig-Holstein und anderen Bundesländern aufzuarbeiten, was in den Tagen nach der Entlassung alles passiert ist und wer mit wem in Kontakt getreten ist“, sagte Kerstan und verwies darauf, dass es auch unter Einhaltung aller Regeln zu so schrecklichen Taten kommen könne. „Es soll nichts entschuldigen, aber eine 100-prozentige Sicherheit mit Menschen – so wie sie nun mal sind – wird es wahrscheinlich niemals geben können.“

Die Hamburger Bürgerschaft befasst sich am Mittwoch mit der tödlichen Messerattacke. Die AfD-Fraktion hat das Thema zur Aktuellen Stunde angemeldet. (dpa/usch)

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