Ex-Chef festgenommen: Der Wirecard-Krimi – oder: die verschwundenen Milliarden
München –
Es bahnt sich der vermutlich größte Finanzskandal der deutschen Wirtschaftsgeschichte an. Es betrifft Wirecard, einen Zahlungsdienstleister aus Aschheim bei München, dessen Aufstieg in den Dax – in die „Bundesliga der deutschen Unternehmen“ – einst den Höhepunkt eines anhaltenden Kursfeuerwerks markierte. Der Wirecard-Skandal zusammengefasst:
Verschwundene Milliarden
1,9 Milliarden Euro, die angeblich auf philippinischen Treuhandkonten liegen sollten, existieren „mit überwiegender Wahrscheinlichkeit” nicht, erklärte der neu besetzte Vorstand des Zahlungsdienstleisters jetzt.
Das Geld macht ein Viertel der Bilanzsumme aus und hat theoretisch als Sicherheit für bargeldlosen Zahlungsverkehr gedient, den Wirecard selbst und auch über Drittpartner in aller Welt managt.
Gefakte Geschäftszahlen
Große Teile des bislang für 2019 und das erste Quartal 2020 ausgewiesenen Geschäfts haben möglicherweise nicht existiert. Auch bei früheren Geschäftsjahren könnte das so sein. Wirecard prüft nun unter anderem seine Zerschlagung, um noch etwas zu retten.
Bereits 2019 hatte die Financial Times (FT) in einer Serie von Enthüllungsberichten dubiose Unregelmäßigkeiten angeprangert. Die Wirecard-Geschäfte könnten im Zuge systematischer Bilanzfälschung mittels erfundener Scheinumsätze jahrelang künstlich aufgeblasen worden sein.
Zwielichtige Treuhändler
Große Zweifel sind indessen auch hinsichtlich des Treuhänders laut geworden, der für Wirecard 2019 auf den Philippinen die im Fokus stehenden Treuhandkonten eingerichtet hat oder behauptet, das getan zu haben. Ihn will die “Süddeutsche Zeitung” im Rechtsanwalt Mark Tolentino identifiziert haben. Stimmt das, hat Wirecard 1,9 Milliarden Euro in die Hand einer zwielichtigen Person gelegt.
Denn 2018 ist der damalige Staatsbedienstete Tolentino vom philippinischen Staatspräsidenten Rodrigo Duterte wegen „fragwürdiger Geschäfte” gefeuert worden, wie man beim Googeln schnell erfährt.
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Unseriöse Partnerfirmen
Als Zahlungsdienstleister verfügt Wirecard nicht in allen Ländern über eigene Geschäftslizenzen, sondern kooperiert mit Partnerfirmen. Über diese Partner sind große Teile des Geschäfts gelaufen. In manchen Jahren war es ein Drittel aller behaupteten Umsätze und die Hälfte aller ausgewiesenen Gewinne. Große Teile dieses Drittpartnergschäfts, vor allem Al Alam in Dubai, existierten gar nicht.
Die Betrogenen
Die ersten Verlieren waren Aktionäre, der Wert der Aktie stürzte vom Allzeithoch (knapp unter 200 Euro) auf 16 Euro gestern. Der Dax-Konzern verfügt auch über eine Banklizenz. Gut 1,7 Milliarden Euro an Kundengeldern lagern auf Wirecard-Konten, diese sind akut bedroht. Zuguterletzt: Gut 5800 Beschäftigten müssen um ihren Job bangen.
Der Ex-Chef
Am späten Montagabend wurde der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun festgenommen. Der österreichische Manager habe sich selbst gestellt und sei aus Wien angereist, nachdem er wohl von dem Haftbefehl erfahren habe, hieß es von den Ermittlern. Braun soll kooperationswillig sein. „Er hat im ersten Gespräch seine Mitarbeit zugesagt“, sagte am Dienstag die Sprecherin der Ermittlungsbehörde, Anne Leiding.
Vorgeworfen werden Braun derzeit „unrichtige Angaben“ in den Wirecard-Bilanzen und Marktmanipulation, doch kommen auch andere Straftaten in Betracht. „Wir führen unsere Ermittlungen ergebnisoffen“, sagte Leiding dazu. Am Dienstagnachmittag wurde Braun dann gegen Kaution freigelassen. Die Summe: fünf Millionen Euro.
Möglicherweise ist seine Festnahme nicht die letzte in dem Skandal. Der am Montag von Wirecard gefeuerte Jan Marsalek war bis vergangene Woche für das Tagesgeschäft verantwortlich. Nach Leidings Worten ist möglich, dass Marsalek nun ebenfalls per Haftbefehl gesucht wird: „Das kann ich weder bestätigen noch dementieren“, sagte die Oberstaatsanwältin.