Ein Mädchen wird von seiner Mutter in den Arm genommen. (Symbolbild)
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Lockdown-Folgen: Wenn Kinder plötzlich sterben wollen

Corona ist vorbei. Sagt die Politik. Sagen die Virologen. Doch für viele Kinder und Jugendliche in Hamburg ist Corona noch längst nicht vorbei. Sie leiden bis heute an den Folgen der Zeit, die sie im Lockdown erlebt haben. Ohne Schule, ohne soziale Kontakte, ohne frische Luft, ohne Bewegung. Die Mädchen und Jungen haben zum Teil schwere Depressionen. Ihre Eltern sind verzweifelt, die Schulen überfordert. Zahlen dazu gibt es nur wenige. Die MOPO hat mit Betroffenen gesprochen.

Dienstagabend. 18 Uhr. Ein Versammlungsraum irgendwo im Zentrum Hamburgs. Hier trifft sich regelmäßig eine Selbsthilfegruppe von Eltern psychisch kranker Kinder. Zwölf Familien haben sich zu der Gruppe zusammengetan. Heute sind sieben Mütter da.

Die Selbsthilfegruppe

„Meine Tochter ist 14. Los ging es im Oktober“, erzählt eine Frau. Da sei sie mit ihrer Tochter beim Kinderarzt gewesen. Als das Mädchen sich für die Untersuchung den Pulli auszog, habe sie es gesehen. „Der Oberarm war übersät mit sehr, sehr, sehr vielen Linien.“ Es waren Narben, die die geschockte Mutter zu sehen bekam. Und frische Schnittwunden. Zugefügt mit einem Rasiermesser.

Reihum erzählen die Mütter von dem selbstverletzenden Verhalten ihrer Kinder. Die meisten ritzen sich. Andere schlagen den Kopf auf den Boden oder gegen die Wand. Wieder andere sind so erschöpft, dass sie nur im Bett liegen können. Es sind alles Kinder aus bürgerlichen Haushalten, die während des Lockdowns den Halt verloren haben. Die aus der Bahn geworfen wurden.

Ihre Eltern haben schnell reagiert. Sie versuchten, sich Hilfe zu holen. Doch sie laufen bis heute immer wieder gegen Wände. Denn die psychotherapeutische Versorgungslage für Kinder ist schwierig in Hamburg. Fast keiner der Jungen und Mädchen ist mehr in der Lage, regelmäßig zur Schule zu gehen. Manche gehen nur zwei Stunden am Tag hin. Manche gar nicht. Ein Kind hat die Schule abgebrochen. Die meisten haben Klinikaufenthalte hinter sich. Die Zukunft ist ungewiss.

Das zwölfjährige Mädchen

Elsa ist zwölf Jahre alt und wohnt in Altona. Sie war immer ein fröhliches und sportliches Mädchen mit vielen Freundinnen. Seit dem ersten Corona-Lockdown ist das vorbei. „Am Anfang fand ich es noch cool, dass ich nicht zur Schule musste“, erzählt sie. „Aber dann ist da schleichend etwas mit mir passiert.“ Früher habe sie immer viel Playmobil gespielt und sich dabei Geschichten ausgedacht.

Als der Lockdown kam, habe sie sich nach dem Frühstück wieder ins Bett gelegt und fern gesehen. So viel, dass es sie sogar selbst manchmal nervte. „Aber es gab ja nichts zu tun“, sagt sie. Und die Freundinnen durfte sie nicht treffen. „Meine Kreativität ist verloren gegangen“, stellt sie fest und klingt wie eine Erwachsene. Oder wie ein Kind, das viel nachdenkt.

Völlige Erschöpfung: Ein Mädchen kauert im Flur auf dem Fußboden (Symbolbild). dpa
Ein Mädchen kauert im Flur auf dem Fußboden
Völlige Erschöpfung: Ein Mädchen kauert im Flur auf dem Fußboden (Symbolbild).

Im Bett habe sie viel gegessen. Süßigkeiten. „Irgendwann hab ich im Spiegel gesehen, dass ich dick geworden bin. Ich hab mich nicht mehr wohl gefühlt in meinem Körper. Aus Frust hab ich noch mehr Schokolade gegessen.“

Nach den Sommerferien 2020 war der Lockdown vorbei. Elsa wechselte aufs Gymnasium. Eine neue Schule. Neue Kinder, die sie nicht kannte. Alle trugen Maske. Bald der nächste Lockdown. „Ich habe Angst vor der Schule bekommen. Ich habe viel geweint. Ich wollte da nicht mehr hin.“ Oft ging sie nach zwei Stunden nach Hause. Sie klingelte an der Haustür, legte sich, bis die Mutter öffnete, auf die Fußmatte, schaffte es vor Erschöpfung nicht mal mehr über die Türschwelle. Irgendwann war der Schulbesuch gar nicht mehr möglich.

Die Mutter

„Wir haben als Familie gleich zu Beginn der Pandemie die Erfahrung gemacht, dass Corona tödlich ist. Elsas Oma ist daran gestorben“, sagt ihre Mutter. Die 48-Jährige ist alleinerziehend. Neben Elsa gibt es noch zwei weitere Kinder. Der Lockdown brachte die Juristin an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Trotzdem versuchte sie immer Lösungen für ihre Kinder zu finden. „Ich dachte, die Notbetreuung wäre gut, weil es dort Kontakt zu anderen Kindern gibt.“ Aber dort gab es aus Sicht der Tochter nur „blöde Jungs“. „Sie hatte niemanden zum Andocken.“

Die Tochter habe viel geweint. Besonders schlimm war es abends. „Sie lag zitternd in meinen Armen. Weil sie Angst vor dem nächsten Morgen hatte.“ Einschlafen kann das Mädchen bis heute nur neben seiner Mutter im Bett. Ein eigenes Leben kann die 48-Jährige nicht mehr führen. Auch, weil es seit anderthalb Jahren um Leben und Tod geht.

„Zuerst sagte sie immer häufiger, dass sie nicht mehr leben wolle“, sagt die Mutter. Nach und nach seien die Fragen konkreter geworden. „Mama, ist man eigentlich sicher tot, wenn man vom Balkon springt?“ Oder: „Mama, ich wollte mir die Pulsadern aufschneiden, aber ich wusste nicht, wo die sind.“

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Die Mutter rief sämtliche Kinderpsychiater an. Die Wartezeit betrug sieben bis 14 Monate! Bei den Kinderpsychologen sieht es nicht viel anders aus. Auch auf einen Klinikplatz müssen Familien lange warten. Für die Mutter und ihre Leidensgenossinnen von der Selbsthilfegruppe ist das „unterlassene Hilfeleistung durch die Gesellschaft“. Schließlich würden sich die Symptome der Kinder ohne Therapie nur weiter verfestigen.

Die Mutter schrieb Briefe – sogar an den Bürgermeister! Doch aus den Antworten schloss die Mutter, dass das Problem nicht bekannt ist. Es hieß sogar, in Hamburg herrsche eine Überversorgung. Darüber kann sie nur den Kopf schütteln. Die 48-Jährige lässt ihre Tochter nun kaum noch aus den Augen. Auch für die Geschwister ist die Situation belastend. Seitdem es gelang, Elsa im Januar für zwei Monate in einer Klinik unterzubringen, ist es ein kleines bisschen besser.

Aber obwohl Elsa inzwischen eine Klasse zurückgegangen ist, sind die schulischen Leistungen immer noch bedenklich. Neue Mitschüler, neue Lehrer – die Angst ist geblieben. Ob sie den Anschluss jemals wiederfindet, ist unklar. Und die Suizidgedanken sind nicht weg.

Die Institutionen

40 Mal ist das behördliche Kriseninterventionsteam im Jahr 2022 ausgerückt, weil es an Schulen in Hamburg Notsituationen gab. In sieben Fällen ging es dabei um Leben und Tod. Laut Christian Böhm, Leiter der Beratungsstelle Gewaltprävention, ist es dieses Jahr ähnlich. Zahlen liegen noch nicht vor. Besonders schockiert ist die Elternschaft eines Gymnasiums mitten im bürgerlichen Stadtteil Eimsbüttel, in dem es im Frühling diesen Jahres innerhalb von zwei Monaten zu zwei Suiziden kam.

Die Belastungssituation vieler Schüler lässt sich auch an den Klinik-Einweisungen ablesen. Einer Studie der Krankenkasse DAK zufolge wurden bundesweit 2022 ein Drittel mehr Teenager zwischen 15 und 17 Jahren mit einer Angststörung in Kliniken versorgt als im Vor-Corona-Jahr 2019. Ein neuer Höchststand. Auch die Behandlungszahlen bei Essstörungen (plus 52 Prozent) und Depressionen (plus 25 Prozent) nahmen deutlich zu. Eigene Zahlen für Hamburg gibt es bisher nicht.

Das Gleiche gilt für das Thema Schulabsentismus. Dabei geht es nicht um tageweises Schwänzen, sondern dauerhaftes Fehlen. In Hamburg werden die Zahlen nicht systematisch erfasst. Bundesweit wird laut Bildungsforscher Prof. Heinrich Ricking aktuell von einer Fehlquote von fünf Prozent ausgegangen. Für die Hansestadt lässt sich nur aus den verhängten Bußgeldern erahnen, wie die Situation ist: Wurden 2020 noch 1226 Strafen wegen Abwesenheit verhängt, waren es 2021 laut einer Senatsantwort auf eine Anfrage der Linken 1464 und vergangenes Jahr sogar schon 2067.

Auch Gewaltmeldungen haben in Hamburg seit Beginn der Pandemie deutlich zugenommen. Raub- und Sexualdelikte auf dem Schulhof oder im schulischen Umfeld sowie gefährliche Körperverletzungen kommen viel häufiger vor als vor 2019. Laut polizeilicher Kriminalstatistik stieg die Zahl tatverdächtiger Kinder 2022 im Vergleich zu 2019 um 41 Prozent!

Angesichts dieser Entwicklungen erstaunt es umso mehr, dass Hamburg im kommenden Schuljahr zehn Schulpsychologen weniger beschäftigen wird, als im aktuellen Schuljahr. Laut Christian Böhm waren 2021 in Hamburg 20 Schulpsychologen extra angestellt worden, die aus Bundesmitteln finanziert wurden. Weil diese Gelder jetzt auslaufen, müssen zehn der 76 Schulpsychologen gehen.

Die Schulpsychologin

Für eine an mehreren Brennpunktschulen beschäftigte Psychologin, die anonym bleiben möchte, ist das nicht nachvollziehbar. „Wir haben alle Hände voll zu tun“, sagt die 44-Jährige. Größtes Problem sei eine recht verbreitete Sozialphobie. „In den ersten Klassen haben wir gerade Kinder, die während der Pandemie kaum in der Kita waren und deshalb nicht gelernt haben, wie man sich in Gruppen bewegt. Wie man Freundschaften knüpft und mit Ablehnung umgeht“, so die Psychologin.

Im Bezirk Nord wurden zuletzt bei der Schuleingangsuntersuchung sieben von zehn Kindern als „nicht schulreif“ eingestuft und zurückgestellt. Unter denjenigen, die eingeschult werden, sind laut der Schulpsychologin auffällig viele Kinder, die weinend im Schulflur sitzen und von ihren Eltern abgeholt werden möchten. Nur: Anders als in der Kita geht das in der Schule nicht mehr. Zu den Eingewöhnungsproblemen kämen Streitigkeiten mit Mitschülern.

Auch bei den älteren Schülern gebe es oft Probleme, weil sie nicht mit vielen Menschen in einem Raum sein können. Auf diesen Schülern laste außerdem ein hoher Erwartungsdruck. „Viele Eltern denken, dass die Kinder wegen Corona einen Lernrückstand haben. Die Kinder spüren diese Angst der Eltern vor dem Scheitern in der Schule. Das führt zu Verunsicherung.“

Die Verunsicherung betreffe aber nicht nur die schulischen Leistungen. Viele Schüler würden auch unter einem schwachen Selbstwertgefühl leiden, beobachtet die Psychologin. „Während des Lockdowns ist der Medienkonsum bei Jugendlichen stark gestiegen.“ Besonders die Mädchen würden sich an Schönheitsidealen auf Instagram orientieren, statt durch Interaktion mit Gleichaltrigen zu einem gesunden Körpergefühl zu kommen. „Wir führen dazu sehr viele Gespräche.“

Der Lehrer

Herr R. ist Lehrer an einer Stadtteilschule im Hamburger Westen. Auch er beobachtet allgemein eine stark ausgeprägte Angst vor Ausgrenzung. „Die Pandemie hat die Jugendlichen in einem Moment getroffen, wo man sich üblicherweise von seinen Eltern abgrenzt und sich an seiner Peergroup orientiert.“ Seine Schüler, die er schon lange kennt, seien auf sich selbst zurückgeworfen worden. Einige von ihnen hätten sich so verändert, dass er sie kaum wiedererkannte. „Sie wurden instabil. Das dicke Fell, das man braucht, um durchs Abi zu kommen, war weg.“

Streiterei auf dem Schulhof: Ein Junge nimmt seinen Freund in den Schwitzkasten (Symbolbild). dpa
Ein Junge nimmt seinen Freund in den Schwitzkasten
Streiterei auf dem Schulhof: Ein Junge nimmt seinen Freund in den Schwitzkasten (Symbolbild).

Größtes Thema bei den Gesprächen mit seinen Schülern sei, dass sie sich alleine fühlten. Dass sie keine Freunde hätten. Auf dem Schulhof, beobachtet R., wozu das führt. Da herrscht Dickköpfigkeit, es gibt Konkurrenzkämpfe, Freundschaften werden abrupt beendet.

Für Herrn R. ist klar: „Den Schülern fehlen zwei Jahre Sozialisationserfahrung.“ 18-Jährige hätten ein Konfliktverhalten, das eigentlich dem von 16-Jährigen entspricht. Der erfahrene Lehrer ist nun in der Rolle, ständig Streits schlichten zu müssen. „Das musste ich früher nie. In dem Alter können junge Erwachsene Konflikte normalerweise sachlich lösen. Es fehlt die Reife.“

Nach der Pandemie starten nun die ersten seiner Schüler ins Arbeitsleben. Herr R. hat gehört, dass es es einigen von ihnen schwer fällt, sich in Teams einzufügen. „Ich bin mir sicher: Das wird noch jahrelang Auswirkungen haben.“ In einem sind sich die Mütter, das Mädchen, die Schulpsychologin und der Lehrer einig: Die Schulschließungen waren ein Fehler. Einer, der sich nie wiederholen sollte.

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