Millerntor-Grauen: St. Pauli-Präsident Göttlich: Geisterspiele müssen Wendepunkt sein!
Es ist eine Premiere, auf die alle Beteiligten nur allzu gerne verzichtet hätten, ausnahmslos. Wenn der FC St. Pauli heute zum ersten Heimspiel nach der Corona-Pause gegen den 1. FC Nürnberg antritt, wird das Millerntor eine unheimliche, eine gruselige Kulisse sein: für eine Partie Fußball, die nichts anderes verdient hat als die unschöne, von den Funktionären gemiedene, aber zutreffende Bezeichnung Geisterspiel.
Das Bild, das sich mit dem Anstoß bieten wird, dürfte vielen, die das Stadion des FC St. Pauli lieben und regelmäßig mit Leben füllen, einen Schauer über den Rücken jagen.
Gähnende Leere, nackte Tribünen, grauer Beton, Stahl. Kalt, still, trist. Das krasse Gegenteil von dem, wofür das Millerntor an Spieltagen steht und berühmt ist.
FC St. Pauli: Fans wollen Millerntor nicht für Geisterspiele schmücken
Ohne Menschen ist ein Fußballstadion einfach nur ein großes Bauwerk mit einem gepflegten Rasen im Innenhof.
Die Fans der Kiezkicker haben sich entschieden, die Ödnis der Ränge nicht mit bunten Bannern und Fahnen zu schmücken. Sie wollen das deprimierende Bild nicht verfälschen. Wollen nicht kaschieren, dass sie nicht da sind.
Jeder soll sehen, dass dies ein Notfall ist, ein Ausnahmefall, der nie und nimmer Regelfall werden kann, darf. Das ist die Botschaft.
Millerntor: Hells Bells, Song 2 – und niemand singt
„Hells Bells“ wird wie immer erklingen, wenn die Mannschaften einlaufen – ein flüchtiger Hauch von Normalität – und wenn es gut läuft für den FC St. Pauli, dann wird auch „Song 2“ ertönen. Und wenn es richtig gut läuft, sogar mehr als einmal. Aber niemand wird „Woohoo!“ von der Tribüne in Richtung Spielfeld brüllen. Niemand singt am Millerntor. Niemand wird seinem Nachbarn in die Arme fallen, ihn abklatschen, ihm zuprosten.
Oke Göttlich mag gar nicht daran denken, wie es sich anfühlen wird, dieses erste Geisterspiel in der 110-jährigen St. Pauli-Geschichte.
Oke Göttlich mit gemischten Gefühlen vor Liga-Neustart von St. Pauli
Der Präsident wird an diesem historischen Tag als einer der wenigen Repräsentanten des Vereins, deren Zahl aufgrund der strengen DFL-Auflagen begrenzt ist, auf der Tribüne sitzen. Eine verordnete Exklusivität und zweifelhafte Ehre.
„Ich sehe dem Spiel mit gemischten Gefühlen entgegen“, sagt Göttlich im Gespräch mit der MOPO. Das Unwohlsein ist ihm anzumerken. Er betont die Notwendigkeit von Geisterspielen für den Verein und die Mitarbeiter, für den Profi-Fußball in Deutschland, der auf die TV-Millionen existenziell angewiesen ist. In Hochstimmung versetzt ihn der Liga-Neustart, für den der 44-jährige als Mitglied des DFL-Präsidiums wochenlang gekämpft hatte, jedoch nicht.
Göttlich: In den Geisterspielen geht es um viel mehr als Punkte
„Es ist kein Feiertag für den Fußball – aber es ist hoffentlich ein Wendepunkt“, sagt Göttlich. Ja, es gehe heute um drei Punkte. Wichtige Zähler für den Klassenerhalt. Aber nach Ansicht von Göttlich geht es um viel mehr, nicht nur am Millerntor, in allen Arenen.
„Die Tristesse in den Stadien und die ultimative Erkenntnis, dass Fußball ohne Fans keine Alternative ist, muss ein Startsignal für eine Veränderung, für eine Neuentwicklung sein“, fordert Göttlich einmal mehr ein Umdenken in der Fußballbranche. Er setzt darauf, dass die gespenstische Atmosphäre Eindruck hinterlässt, aufrüttelt. Nicht nur kurz und heftig, sondern auch nachhaltig.
Wie groß der Wille zur Veränderung im deutschen Profifußball wirklich ist, muss sich erst noch zeigen. Bis auf Weiteres bleiben Spiele ohne Zuschauer, wie es Göttlich formuliert, „die beste unter den schlechten Möglichkeiten.“