Andreas Rettig im Interview: Keine EM, Saison bis Juni, TV-Gelder vorziehen
Köln –
Der Fußball steht still. Das Coronavirus hat die schönste Nebensache der Welt zum Erliegen gebracht. Die Entscheidung hat eine historische Dimension: Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg ist der Ligabetrieb unterbrochen. Wie soll es weitergehen? Am Montag treffen sich die Vertreter der Profi-Vereine zu einer außerordentlichen Versammlung in Frankfurt. Am Dienstag will der europäische Fußballverband UEFA eine Videokonferenz abhalten. Welche Themen sollten dort besprochen werden?
Andreas Rettig (56) ist als früherer DFL-Geschäftsführer und als langjähriger Geschäftsführer diverser Profi-Vereine ein exzellenter Kenner des Geschäfts. Seine Thesen vertritt er im EXPRESS-Gespräch.
Herr Rettig, wie sollte der Profi-Fußball mit den Auswirkungen der Corona-Krise umgehen?
Eins vorweg: Die Gesundheit ist das höchste Gut und hat Priorität vor allem anderen. Allerdings ist der Fußball Teil der Gesellschaft und muss in besonderem Maße dieser Verantwortung gerecht werden. Oft genug wird der Begriff Solidarität im Fußball strapaziert, jetzt kann gezeigt werden, dass es nicht bloß Lippenbekenntnisse sind! Auch Eitelkeiten der Funktionäre – auf der einen Seite FIFA-Präsident Gianni Infantino als Verfechter der Club-WM, dort Aleksander Ceferin von der UEFA als EM-Ausrichter – müssen zurückgestellt werden und unter dem Blickwinkel des großen Ganzen betrachtet werden.
Champions League, Europa League und Bundesliga sind ausgesetzt. Wie soll das in Zukunft weitergehen?
Die Integrität des Wettbewerbes ist der wichtigste Punkt. Die nationalen Wettbewerbe haben sicher Vorrang vor den internationalen. Das „Brot und Butter“-Geschäft der nationalen Ligen, vor allem der fünf wichtigsten, bestimmt den weiteren Ablauf der internationalen Wettbewerbe der UEFA, und nicht umgekehrt. Oberstes Ziel ist die sportlich faire Beendigung des laufenden Wettbewerbes auch unter Berücksichtigung etwaiger Verschiebungen internationaler Wettbewerbe.
Andreas Rettig: Die Fußball-EM kann sicher nicht stattfinden
Aber wie sollen die Spielzeiten beendet werden, wenn im Juni die EM beginnen soll?
Die EM kann in Kenntnis der momentan erkennbaren gesundheitlichen Risiken sicher nicht stattfinden. Die UEFA als Organisator der nachgeordneten Wettbewerbe kann nicht die Existenzgrundlage der nationalen Ligen durch Blockierung von Zeitfenstern riskieren. Im Moment ist ja auch noch nicht absehbar, wann die nationalen Ligen den Spielbetrieb wieder aufnehmen können. Die derzeit von der DFL verkündete Pause bis zum 2. April ist ein Datum, das nur eine kurze Verschnaufpause bringt, aber sicher ausgedehnt werden muss. Vielleicht können Anfang Mai wieder Spiele beginnen – sicherlich dann aber zunächst ohne Publikum.
Wie lautet also Ihr konkreter Vorschlag?
Ein erster Ansatz wäre es, die Planung für den nationalen Spielbetrieb mindestens bis zum 30. Juni auszudehnen, statt bis zum 16./17. Mai. So bewegen wir uns noch im Rahmen des von den Verbänden vorgegebenen Spieljahres, an dem sich auch die Dauer der Spielerverträge orientiert. Dadurch gewinnen wir bereits 44 Tage. Vielleicht braucht man auch weitere vier bis sechs Wochen mehr, um den Spielbetrieb zu beenden.
Aber eine Verlängerung bringt doch weitere Probleme mit sich. Wie soll das funktionieren?
Man muss schon klare Einschnitte vornehmen: Das Pokalfinale hat Vorrang vor dem Supercup, dieser entfällt dann. Die Relegation reicht in jeweils nur in einem Spiel auf neutralem Platz. Die Sommerpause muss auf ein (medizinisch) vertretbares Maß verkürzt werden, die künftige Winterpause entfallen. Das Sommer-Transferfenster muss um vier Wochen oder nach Maßgabe des Endes des Spieljahres verlängert werden. Die Abstellungsperioden für Nationalspieler werden bis auf weiteres auf ein Minimum verkürzt.
Wie soll die Liga die wirtschaftlichen Probleme abwickeln?
Eins ist klar: Der Profifußball leistet zwar seinen gesellschaftlichen Beitrag, aber er sollte zunächst ohne Ruf nach staatlicher Unterstützung durch diese Krise kommen. Möglich wäre es, die spieltagsbezogenen Einnahmeausfälle durch den Vorgriff auf die Erlöse des neuen Medienvertrages (beginnend ab 2021) durch Liquiditätsfluss im Juni/Juli auszugleichen. Die Klubs brauchen heute Liquidität, deshalb sind beispielsweise 10 Millionen als „Spatz in der Hand“ heute wichtiger als 11 Millionen als „Taube auf dem Dach“ in anderthalb Jahren. Durch diese Maßnahme gewinnen alle Klubs Zeit, um sich auf die neue Situation einzustellen. Zudem erhöht diese Planungssicherheit die (internationale) Wettbewerbsfähigkeit auf dem Transfermarkt.
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Was wäre die Lösung, wenn die Krise sich weiter ausweitet und die Saison abgebrochen werden muss?
Dann müsste die Bundesliga durch die drei dann bestplatzierten Mannschaften der 2. Liga aufgestockt werden. Es gäbe dann keinen Absteiger aus der Bundesliga und damit auch keinen Anlass für Vereine, juristisch gegen diese Regelung vorzugehen. Dies würde bedeuten, dass die Bundesliga mit 21 Mannschaften in die neue Saison geht. Somit könnten auch die zusätzlichen Spiele als Kompensation für die in der abgelaufenen Saison nicht ausgetragenen Spiele dienen. Die 2. Bundesliga würde in der nächsten Saison mit 18 Vereinen spielen, wenn auch die drei bestplatzierten aus der 3. Liga in die 2. Bundesliga aufsteigen.