HSV-Sportvorstand: Boldt: „Der FC St. Pauli interessiert mich wenig“
Das Derby-Fieber steigt. Am Freitag werden HSV-Sportvorstand Jonas Boldt und St. Paulis Sport-Geschäftsführer Andreas Bornemann im Volkspark auf den Sieg ihres Vereins im Stadtduell hoffen, der erste Schlagabtausch aber liegt bereits hinter ihnen.
Die MOPO führte die beiden Bosse an einem Ort zusammen, der neutraler kaum sein könnte: Das Hotel „Gastwerk“ knapp vier Kilometer von den Stadien beider Klubs entfernt, diente als Treffpunkt des Derby-Talks, bevor es auf dem Platz ernst wird.
MOPO: Das letzte Derby im Februar war für beide Vereine ein denkwürdiges – aus unterschiedlichen Gründen. Herr Boldt, Herr Bornemann, wissen Sie noch, wie Sie den Abend danach verbracht haben?
Jonas Boldt (38): Nein. Weil es ein Tag zum Vergessen war. Das habe ich auch.
Andreas Bornemann (49): So, wie ich es eigentlich immer handhabe. Egal ob wir gewinnen oder verlieren oder ob es ein Derby war. Ich freue mich, wenn ich nach Hause und den Tag mit der Familie ausklingen lassen kann.
HSV-Macher Jonas Boldt und Andreas Bornemann vom FC St. Pauli im Doppel-Interview
Können Sie aus dem Spiel etwas in das nun anstehende Derby mitnehmen?
Bornemann: Gar nichts. Wir haben jetzt auf beiden Seiten andere Trainer, andere Herangehensweisen, viele andere Spieler, bei uns vielleicht sogar noch ein paar mehr als beim HSV.
Boldt: Wir nehmen das Wissen mit, dass wir noch einiges gutzumachen haben. Das sollte reichen.
Derbys sind spezielle Spiele. Durch welche dieser Duelle wurden Sie geprägt?
Boldt: Als Jugendlicher erinnere ich mich an ein Spiel von Waldhof Mannheim gegen Kaiserslautern. Da ging es schon zur Sache. Später in Leverkusen waren es die Spiele und meistens auch Siege gegen Köln, auch wenn es heißt, dass der Kölner an sich eher das Derby gegen Gladbach in den Vordergrund stellt.
Bornemann: Bei mir war das mit dem FC Neuenburg, meinem Heimatverein, gegen Alemannia Müllheim. Das war in der Jugend. Die beiden Orte waren durch sieben, acht Kilometer getrennt, da konnten die Animositäten nicht größer sein. Später dann, im B- oder A-Junioren-Alter mit dem SC Freiburg, gab es die innerstädtischen Derbys gegen die Eintracht oder die Sportfreunde. Die richtigen Derbys waren dann die zwischen dem FC und dem SC Freiburg. Auch Nürnberg und Fürth grenzen ja direkt aneinander, das Franken-Derby hat von all dem schon die größte Strahlkraft im alltäglichen Leben gehabt. In Nürnberg hat der Club schon eine große Bedeutung.
Boldt: All meine Erfahrungen werden aber getoppt durch die Derbys, die ich in Südamerika gesehen habe. Boca Juniors gegen River Plate, wo du allein drei Stunden brauchst, um kurz vorm Stadion durch die Sicherheitszonen zu kommen. Da gehen Dinge in den Fanlagern dann auch zu weit. Ich weiß noch, dass es bei dem Spiel unter den River-Fans zu einer Messerstecherei kam. Grundsätzlich ist die Stimmung in Argentinien aber sensationell.
Kaum Fans beim Derby! So denken Boldt und Bornemann darüber
Das wird diesmal im Volkspark nicht der Fall sein können. Nur 1000 Anhänger können dabei sein. Rauben die fehlenden Fans am Ende ein großes Stück des Derby-Feelings?
Bornemann: Natürlich wird uns ein volles Stadion fehlen. Das ist klar. Wenn sich 1000 Leute am Millerntor bemerkbar machen, geht das schon ein Stück weit in Richtung Atmosphäre. Wenn sich im Volkspark 1000 Leute verlieren, ist es schwierig.
Boldt: Das kann ich so nicht bestätigen. Auch die 1000 nimmst du richtig wahr. Man merkt: Die haben richtig Lust auf die Spiele. Aber natürlich nehmen die vielen freien Plätze ein Stück vom Derby-Feeling. Generell macht Fußball ohne Fans keinen Spaß.
Wacht man als Verantwortlicher eines Profi-Vereins auch mal auf und denkt: Es reicht jetzt, kann diese Corona-Zeit nicht mal vorbei sein?
Bornemann: Wir hatten in der ersten Phase, im Februar und März, immer Meilensteine, die Saison irgendwie zu Ende zu bringen in der Hoffnung, dass man das mit Beginn der neuen Saison hinter sich hat. Es ist immer einfacher, wenn man sagen kann, man hat ein Ziel vor Augen, in ein paar Monaten hat sich das erledigt. Aber jetzt kann man nicht sagen, wie lange uns das begleiten wird. Und dann ist da noch die andere Geschichte: Wie schnell haben die Leute wieder Lust und Vertrauen, wenn erst einmal 10 000 Besucher freigegeben sind?
Boldt: Zumindest haben wir als Vereine aber noch immer die Chance, den Menschen durch unsere Spiele etwas Halt zu geben. Und wir sind privilegiert, haben eine Aufgabe, der wir weiterhin nachgehen können. Mich beeinträchtigt wie viele andere eher, dass es im Zwischenmenschlichen und Gesellschaftlichen immer mehr Einschränkungen gibt.
In Hamburg etwa ruht der Spielbetrieb bei Jugendlichen und Amateuren wieder.
Bornemann: Das war zu befürchten. Wenn der Ausgleich, zwei, drei Mal die Woche zu trainieren und am Wochenende zu spielen wieder flachfällt, wird das Leben der Kinder und Jugendlichen wieder mehr vor die Konsolen verlagert.
Boldt: Und es betrifft ja nicht nur den Fußball. Was machen die, die Hockey oder Basketball spielen? Oder singen? Da besteht ja plötzlich die Gefahr, dass du als ein Superspreader gesehen wirst.
Befürchten Sie, dass es wie in der Vorsaison zu einer Unterbrechung der Bundesliga-Spielzeit kommen könnte?
Boldt: Natürlich muss man diese Gefahr immer im Hinterkopf haben.
Bornemann: Wir sitzen ja beide in der „Kommission Fußball“, und da wurden vor zehn Tagen alle noch einmal dahingehend sensibilisiert, was auf dem Spiel steht. Aber man hat bislang in den Vereinen, in denen Fälle aufgetreten sind, gesehen, dass sich das Virus dort nicht ausgebreitet hat. Das ist ein Zeichen dafür, dass all die Maßnahmen tatsächlich funktionieren. Aber im Moment haben wir insgesamt eine schleichende Entwicklung, und die wird über kurz oder lang in der Konsequenz auch mal den Profi-Fußball erreichen. Auch wenn wir uns in einer Blase bewegen, sind wir ja ein Stück weit mittendrin. Inwieweit dann von politischer Seite Entscheidungen getroffen werden, müssen wir abwarten.
Holt der FC St. Pauli sportlich zum HSV auf?
Umso mehr gilt es, das anstehende Derby zu genießen. Vor der Saison entstand der Eindruck, St. Pauli könne dem HSV sportlich so nah kommen wie seit langem nicht.
Bornemann: Echt? Das habe ich so nicht wahrgenommen. Wir haben versucht, die Mannschaft zu verändern, einem jungen Trainer mit jungen Spielern ein Fundament darzulegen mit ein paar Eckpfeilern links und rechts davon. In den Jahren davor gab es keine kontinuierliche Entwicklung der Mannschaft, keine Kontinuität auf den sportlich leitenden Positionen, im letzten Jahr waren wir sogar näher an der 3. Liga dran als gewünscht. Wir haben jetzt ein junges Trainerteam, das die Möglichkeit bekommen soll, über einen längeren Zeitraum etwas entwickeln zu können. Das ist schwer genug in einer Liga, in der du schnell mal drei, vier, fünf Spiele verlierst.
Der HSV hat vor dieser Saison strikt vermieden, vom Aufstieg zu sprechen und sich betont defensiv gegeben.
Boldt: Ich weiß nicht, ob wir es anders gemacht haben als im Jahr vorher oder ob es anders dargestellt wurde, weil der Name des Trainers nun nicht ganz so groß war. Wir stellen Ambitionen immer in den Vordergrund, aber wir wollen auch das Wort Entwicklung leben. Auch deshalb haben wir uns für Daniel Thioune als Trainer entschieden.
Waren Sie in diesem Sommer auf dem Transfermarkt größere Konkurrenten als in den Jahren zuvor?
Bornemann: Es kann natürlich sein, dass sich mal die Wege kreuzen, aber das war für mein Empfinden nicht ausgeprägt häufig. Es ist kein Geheimnis, dass wir uns mit Daniel Thioune beschäftigt haben. Es war aber nicht nach dem Motto: Der HSV schnappt uns den Kandidaten weg. Ich kann den HSV dazu nur beglückwünschen, sie haben einen sehr guten Trainer, in Hannes Drews, den ich aus Kiel noch als Jugendtrainer kenne, einen guten Co-Trainer. Die Spielergeneration heute musst du inhaltlich packen, und da hat der HSV – genau wie wir – einen guten Trainer.
Boldt: Die Glückwünsche gebe ich zurück. Ich glaube, dass St. Pauli ein Team mit drei wirklich spannenden Trainern hat, da ist eine klare Idee zu erkennen. Aber dass wir in Sachen Neuzugänge im selben Teich gefischt haben, kann ich nicht bestätigen.
Dass beide Vereine Interesse an Moritz Heyer hatten, der dann zum HSV wechselte, ist aber verbrieft.
Boldt: Es gab mehrere Vereine, die ihn haben wollten. Das betrifft aber alle Spieler, die wir geholt haben. Und es gab auch Spieler, die wir gerne geholt hätten und nicht bekommen haben.
HSV-Sportvorstand Jonas Boldt vor Derby in Hamburg: „Der FC St. Pauli interessiert mich wenig“
Sehen Sie ansonsten Parallelen zwischen den beiden Vereinen?
Bornemann: Die Spielklasse! (lacht)
Boldt: Da kann ich wenig zu sagen, denn ich beschäftige mich nicht so viel mit dem FC St. Pauli. Sicherlich ist es so, dass sie immer für einen toleranten Weg und für Werte standen. Ich denke, dass sich das beim HSV auch entwickelt hat. Grundsätzlich müssen wir aber auch nicht so viel mit St. Pauli gemeinsam haben.
Das war schon fast eine kleine Provokation. Grundsätzlich fällt auf, dass auch vor Derbys der Ball heutzutage betont flach gehalten wird. Sind Sticheleien verboten?
Bornemann: Ich bin kein Freund davon. Ich liebe es, wenn so ein Spiel angepfiffen wird und du merkst, es ist etwas Besonderes. Schon wenn du mit dem Bus hinfährst, in der Kabine sitzt und alles auf dich einwirken lässt. Aber davor mit markigen Sprüchen zu hantieren, das finde ich schwierig. Du musst dir Sprüche heutzutage auch erlauben können, die bleiben ewig haften.
Boldt: Die Frage ist immer: Was kommt dabei rum? Große Klappe haben, dann Elfer verschießen, das ist dann halt blöd. Profis wachsen heute damit auf, dass auf sie draufgeknüppelt wird, wenn ihnen etwas misslingt. Deshalb sind alle deutlich vorsichtiger.
Kritik gab es früher aber auch.
Boldt: Stimmt. Aber früher gab es keine anonymen Social-Media-Accounts. Du hattest drei Zeitungen, da kannten sich Profis und Reporter untereinander sehr gut. Das Problem, das ich heutzutage sehe, ist nicht die Reaktion beim Bäcker, sondern die Kritik aus der Anonymität heraus. Gesellschaftlich wäre uns schon sehr geholfen, wenn sich jeder mit seiner wahren Identität zeigen muss. Dann würde vieles anders laufen.
Kritik und Sprüche hin oder her – was bedeutet ein Sieg im Stadtduell?
Bornemann: Wenn ein Sieg im Derby kein besonderer wäre, wäre es auch kein Derby mehr. In der letzten Saison waren die Derby-Siege immer der Beginn von kleinen Serien, in denen wir punkten konnten. Das kann einem schon Rückenwind verschaffen. Und es ist eine besondere Motivation, eine Mannschaft schlagen zu können, die bislang ungeschlagen geblieben ist.
Boldt: Dieses Stadt-Derby spielt aufgrund der empfindlichen Niederlagen der Vorsaison sicher eine größere Rolle für uns. Wir können zwar die Vergangenheit nicht mehr ändern, aber eine neue Geschichte schreiben.
Und ganz grundsätzlich? Herr Bornemann, ist der HSV für Sie wie für so viele andere der große Aufstiegsfavorit?
Bornemann: Der HSV wird in jedem Jahr – ob sie es wollen oder nicht – genauso wie Hannover mit der Erwartungshaltung konfrontiert werden, aufsteigen zu müssen.
Und St. Pauli, Herr Boldt? Trauen Sie dem Stadtrivalen zu, oben anzugreifen?
Boldt: Ich bleibe dabei, dass wir nur auf uns gucken, damit haben wir genug zu tun. Der FC St. Pauli interessiert mich wenig.