Weihnachten auf See: Von der Sehnsucht auf der Mittelwelle
Heiligabend 1959, ein Frachter weit draußen auf dem Nordatlantik. Der Sturm brüllt und das Schiff aus Hamburg kämpft sich durch die Wellen. In der Bude des Funkers, direkt neben der Brücke, hat sich die Crew um das alte Radio versammelt. Alle hören den „Gruß an Bord“.
So hat mir Kapitän Jürgen Schwandt das erzählt, der alte Seemann. „Es knisterte und es rauschte. Mal war es laut, mal leise, man konnte kaum etwas verstehen und glaubte doch, jedes Wort zu verstehen“, erinnert er sich. Eine Sendung war die einzige Verbindung zur Familie daheim, ausgestrahlt von Norddeich Radio.
„Gruß an Bord“ läuft seit 70 Jahren
Die Seefunkstation hinter dem Deich im ostfriesischen Norden gibt es lange nicht mehr. „Gruß an Bord“ aber läuft noch immer, seit 70 Jahren, als liebenswerter Anachronismus. Heute braucht es eigentlich keine Mittelwelle mehr auf den Wellen. Große Reedereien wie Maersk haben ihre Frachter mit schnellem Internet ausgerüstet. Doch der „Gruß an Bord“ bleibt wichtig: gemeinsam einsam.
Der Autor: Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründeten Ankerherz Verlag (www.ankerherz.de). Vorher war er Polizeireporter für die „Chicago Tribune“, arbeitete als Reporter für Zeitschriften wie „Max“, „Stern“ und „GQ“ von Uganda bis Grönland. Sein neues Buch „Das muss das Boot abkönnen“ gibt es im MOPO-Shop unter mopo.de/shop. Weitere Bücher gibt es im Ankerherz-Shop – zum Beispiel „Das kleine Buch vom Meer – Helden“ oder „Mayday – Seenotretter über ihre dramatischsten Einsätze“.
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Ich habe mich über die Einladung in den „Internationalen Seemannsclub Duckdalben“ gefreut, in dem die Sendung aufgezeichnet wird. Im Saal sieht man Rettungsringe und Schiffmodelle und ein großes Plakat, das einen Matrosen in verschmierter Arbeitskluft und mit Schraubstock zeigt. „Proud to be a seafarer“ steht drunter. „Stolz, ein Seemann zu sein“.
Es duftet nach Kaffee aus Pumpkannen und auf den Tischen stehen Teller mit Spekulatius und Weihnachtsgebäck. Immer mal rumpelt ein Güterzug aus dem Containerterminal am Fenster vorbei.
Angehörige von Seeleuten grüßen ihre Liebsten
Angehörige von Seeleuten sind gekommen, Mütter, Väter, Geschwister, Ehefrauen, die ihre Liebsten grüßen, weit entfernt in der Straße von Malakka, auf dem Nordatlantik oder im Hafen von Hongkong. „Wir denken an dich“, das geht raus auf Frachter, die mit „Express“ enden, weil die meisten deutschen Seeleute auf Schiffen von Hapag-Lloyd arbeiten. Das wünscht man der Crew auf Kreuzfahrtschiffen von AIDA und auf Einheiten der Marine. Auch Sorgen sind im „Seemannsclub Duckdalben“ zu spüren, wenn ein Schiff durch das Rote Meer muss, wo islamistische Huthi-Terroristen feige Anschläge verüben.
Früher waren die Adressaten auf Hochseetrawlern unterwegs. Früher erfuhren Offiziere im Radio von der Geburt eines Kindes. Ein Matrose soll gleich von mehreren Damen gegrüßt worden sein, und wenn jemandem die Flucht aus der DDR glückte, sendete man einen Suchauftrag.
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Die Seefahrt hat sich so extrem gewandelt, doch der „Gruß an Bord“ funktioniert wie ein Fenster in eine andere Zeit. Eines verändert sich eben nie. „Es geht um die Familien der Seeleute“, sagt NDR-Moderator Ocke Bandixen, der mit Birgit Langhammer empathisch durch den Abend führt. Mag es heute Whatsapp geben und Facetime und Facebook: Der Kloß im Hals, wenn der Gruß ausgesprochen ist, der fühlt sich 2023 nicht anders an 1953.