„Obszön“: Das Bohren nach Öl in der Nordsee geht weiter
Nach knapp 24 Stunden auf See passiert die Fähre, mit der wir zu unserer „Skua-Tour“ nach Island aufbrechen, die Shetlandinseln. Der Leuchtturm von Muckle Flugga, der auf Klippen ganz im Norden sein Feuer über das Meer wirft, ist für mich einer der magischsten Orte auf dieser Welt.
Häufig ist das Wetter typisch für dieses Seegebiet, wo die Nordsee in den Nordatlantik übergeht, schroff und rau und wild. In den Wellen rund um Shetland tauchen immer wieder Lichter auf: Ölplattformen. Aus der Ferne sehen sie aus wie Todessterne.
Nun kommen weitere hinzu.
Trotz aller Proteste und eines Appells von 50 Abgeordneten quer durch alle Parteien hat die konservative Regierung des Premierministers Rishi Sunak beschlossen, das Ölfeld „Rosebank“ nordwestlich von Shetland auszubeuten. Bis zu 70.000 Barrel Öl will ein norwegischer Konzern täglich fördern, insgesamt könnten es 500 Millionen Barrel sein – und dafür gibt es von der Regierung in London Subventionen in Höhe von 3,8 Milliarden Dollar.
Großbritannien erschließt neues Ölfeld
Eigentlich hatte sich Großbritannien verpflichtet, bis 2050 klimaneutral zu sein. Wie passt die Erschließung von „Rosebank“ damit zusammen, dem größten unerschlossenen Ölfeld in britischen Gewässern? Zu hören ist der übliche Worst-of-Mix der Rechtfertigungen: Es gehe um „Versorgungssicherheit“ während einer „Übergangsphase“, die Bekämpfung gestiegener Preise wegen des russischen Angriffskrieges, um Unabhängigkeit auf dem Energiesektor, und so weiter. Eine Sprecherin der Grünen Partei nannte die Entscheidung „moralisch obszön“ und den „größten Akt von Umweltvandalismus in unserer Lebenszeit“.
Die Nachricht kommt am Tag, an dem Sebastian Unger, der Meeresbeauftragte der deutschen Bundesregierung, den Zustand der Nordsee auf dem Portal web.de als „besorgniserregend“ bezeichnet. So viele Probleme: sinkender Fischbestand. Starke Erwärmung durch die Klimakrise. Geisternetze. Weltkriegsmunition auf dem Meeresgrund. Zunehmender Schiffsverkehr.
Und ja, das auch: die Ausbeutung von Gas- und Ölreserven.
Dabei ist das Meer, wie Unger es nennt, einer „unserer wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen die Klimakrise“. Ein Großteil der durch den Menschen verursachten Klimaerhitzung und gut ein Viertel des CO₂-Ausstoßes wird von den Meeren „abgepuffert“. Bisher jedenfalls, denn das Meer heizt sich regelrecht auf. Fachleute sprechen von „marinen Hitzewellen“.
Nordsee: Wassertemperatur viel zu warm
Im Juli lag die Wassertemperatur der Nordsee vor Großbritannien fünf Grad über dem normalen Mittelwert. Die US National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) ordnete dies als Hitzewelle der zweithöchsten Kategorie 4 ein. Eine Einstufung, die außerhalb der Tropen selten verwendet wird.
Schon gar nicht für die kalten Meere des Nordens.
Stefan Kruecken, Jahrgang 1975, leitet mit seiner Frau Julia den von ihnen gegründeten Ankerherz Verlag (www.ankerherz.de). Vorher war er Polizeireporter für die „Chicago Tribune“, arbeitete als Reporter für Zeitschriften wie „max“, „Stern“ und „GQ“ von Uganda bis Grönland. Sein neues Buch „Das muss das Boot abkönnen“ gibt es im MOPO-Shop unter mopo.de/shop