Angst um Klienten: Hamburger Pfleger zieht Not-Bremse – und bricht Ausbildung ab
Martin Borawski (48) kümmert sich in einer Wohngruppe um schwerbehinderte Menschen. Betreut sie, wäscht sie und hilft beim Essen. Der Pfleger kommt diesen Menschen, die teils unter multiplen Erkrankungen leiden, sehr nah. Daher ist seine Sorge groß, dass er jemanden mit Corona ansteckt. Doch die Berufsschule verweigert ihm beharrlich das Homeschooling. Kurzentschlossen hat Borawski jetzt die berufsbegleitende Ausbildung zum Heilerziehungspfleger hingeschmissen. Zum Wohl seiner Schützlinge.
Den Betreuten in seiner Einrichtung bleibt Martin Borawski aber treu. Er verbringt jetzt sogar mehr Zeit in der Wohneinrichtung für Menschen mit Behinderung. Denn seit er die Ausbildung vor Kurzem abgebrochen hat, kann er dort noch häufiger eingesetzt werden – als ungelernte Kraft. Die zwei Tage Berufsschule pro Woche fallen erst mal weg.
„Ich weiß wirklich nicht, was wir machen sollen, wenn es in der Einrichtung eine Corona-Infektion gibt“, sagt der Mann aus Borgfelde. Denn die medizinische Behandlung von Menschen mit schweren geistigen Behinderungen sei äußerst problematisch. „Wie soll denn jemand in voller Schutzmontur und Maske bei einem Autisten einen Corona-Test machen?“, fragt er. „Man müsste ihn dafür in Narkose legen.“
Corona: Sorge um Schwerbehinderte und Alte
Vielen der Bewohner kann man das Virus und die Gefahr nicht erklären, Zwang verbietet sich. Auch das Tragen von Masken oder das Abstandhalten ist für sie oft nicht praktikabel.
Quereinsteiger Borawski versteht gerade wegen seines intensiven Kontaktes mit diesen Risiko-Patienten nicht, wieso er und seine Mitschüler weiterhin zweimal wöchentlich in die Berufsschulen gehen müssen. „Es heißt, man solle alle Kontakte reduzieren und das mache ich auch. Aber auf dem Weg zur Schule sitzt man dicht an dicht im Bus.“
Auch in der Berufsschule seien die nötigen Abstände in den Unterrichtsräumen nicht einzuhalten gewesen und das Lüften finde oft nicht wie vorgeschrieben statt.
Berufsschulen in Hamburg: Unterricht nur vor Ort
Zudem werde im Kurssystem gelernt, mit immer anderer Zusammensetzung der Teilnehmer und Raumwechseln. Also anders, als im festen Klassenverband an den Regelschulen. „Wieso können Schüler, die mit Risiko-Patienten arbeiten, nicht bei diesen dramatisch steigenden Corona-Zahlen Homeschooling machen?“, fragt er.
Hamburger Schulbehörde: Zu Hause ist lernen schwerer
Borawski wandte sich an die Schulleitung und auch an die Schulbehörde. Doch dort stieß er auf taube Ohren. „Wenn Sie nicht kommen, fehlen sie unentschuldigt“, hieß es da. Er versteht nicht, wieso es aber offenbar kein Problem ist, alle Studierenden an der Uni auf einen Schlag ins Homeoffice zu schicken, wie es gerade beschlossen wurde.
Nicht nur Heilerziehungspfleger befinden sich in dieser schwierigen Situation, auch tausende Hamburger Krankenpfleger und Altenpfleger gehen während ihrer Ausbildung an mehreren Tagen in der Woche zur Berufsschule. Auch sie sind an den Praxistagen mit kranken und alten Menschen zusammen, die besonders gefährdet sind. Und auch sie können bei der täglichen Arbeit keine Abstände einhalten.
Hamburg: 83 Pfleger in Heimen mit Corona infiziert
Laut Gesundheitsbehörde sind derzeit 83 Beschäftigte und 174 Bewohner von Pflegeheimen mit dem Corona-Virus infiziert. Betroffen sind 14 Pflegeeinrichtungen.
Die Schulbehörde weist die Forderung nach Homeschooling für besonders gefährdete Berufsschüler zurück. In ihrer Argumentation besteht kein Unterschied zwischen dem Zehntklässler eines Gymnasiums und einem Pflege-Schüler an einer Berufsschule. Und in der Schule könne man am besten lernen, weil viele zu Hause nicht die nötigen technischen Voraussetzungen und einen ruhigen Arbeitsplatz hätten.
Schulbehörde: Hamburger Schulen sind sicherer Ort
„Wir wissen, dass sich nicht alle Schüler im Fernunterricht optimal weiterentwickeln konnten“, sagt Christine Gottlob, die Sprecherin des Hamburger Instituts für Berufliche Bildung. Zudem seien die Schulen wegen der vielen Hygieneregeln sicher. „Der überwiegende Teil der infizierten Schüler und Beschäftigten hat sich nicht in der Schule sondern in der Freizeit infiziert“, so Gottlob. Die Zahlen zeigten, dass es an den Schulen vergleichsweise selten zu Ansteckungen komme.
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Gottlob räumt aber gleichzeitig ein, dass im Infektionsfalle Distanzunterricht an den Berufsschulen kein Problem sei. „Die Schule kann dies problemlos umsetzen, da bereits im Frühjahr Konzepte für digitale Beschulung entwickelt und erprobt wurden.“ Borawski ärgert das: „Es ist also möglich! Wieso können wir dann nicht jetzt schon Distanzunterricht machen?“ Er hat nun für sich entschieden, die Ausbildung erst einmal abzubrechen.
Verband der Berufsschulen: Homeschooling möglich
Borawski, der auch gelernter Raumausstatter und Grafiker ist, steht mit seiner Meinung nicht allein. Der Bundesverband der Berufsschullehrer (BvLB) fordert, nicht alle Schüler aller Schulformen über einen Kamm zu scheren. Ältere Schüler könnten auch gut zu Hause lernen.
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Eugen Straubinger, BvLB-Vorsitzender: „Ab der Sek II ist ein Wechsel aus Präsenz- und Distanzunterricht kein Problem. Das haben die Berufsbildner schon während des ersten Lockdowns gezeigt. Außerdem würde das auf einen Schlag übervolle Busse und Bahnen zu den Stoßzeiten entlasten.“