Keine Obdachlosigkeit mehr bis 2030 – wie will Hamburg das schaffen?
Manche Ziele gehen einem leicht über die Lippen: Obdachlosigkeit besiegen zum Beispiel. Kaum noch ein Land, ein Bundesland, eine Stadt, die sich das nicht auf die Fahne geschrieben hätte. Das EU-Parlament will in ganz Europa Obdachlosigkeit bis 2030 abgeschafft haben, auch die Bundesregierung gibt das Ziel aus, und Hamburg hat es sich auch Ende des vergangenen Jahres zu eigen gemacht. Doch was bedeutet das konkret? Denn durch warme Worte finden obdachlose Menschen noch längst keine warme Bleibe.
Die nackten Zahlen sind alles andere als vielversprechend. In Hamburg hat sich die Zahl der Obdachlosen im vergangenen Jahrzehnt fast verdoppelt. Es wird zwar nicht häufig offiziell durchgezählt, aber bei der letzten veröffentlichten Zählung 2018 kam man auf rund 2000 obdachlose Menschen in Hamburg – nahezu eine Verdoppelung im Vergleich zu 2009.
Der Trend steht also den Zielen bislang entgegen. Dabei gilt Hamburg im bundesweiten Vergleich nicht als besonders rückständig, was die Bekämpfung von Obdachlosigkeit angeht. „Unser Ziel ist stets, die Obdachlosigkeit zu überwinden“, sagt Martin Helfrich, Sprecher der Sozialbehörde der MOPO. Das gehe aber nicht von jetzt auf gleich, sondern nur schrittweise. „,Einfach nur‘ Wohnraum reicht oft nicht aus, weil in der Mehrheit der Fälle gesundheitliche oder psychische Einschränkungen, Suchterkrankungen und/oder andere Problemlagen bestehen, die auch gelöst werden müssen.“ Deshalb setze man auf ein mehrstufiges System. Angefangen bei der Prävention vor Obdachlosigkeit, über niedrigschwellige Hilfen wie das Winternotprogramm, bis hin zu öffentlichen Unterbringungen und Wohnraumvermittlung.
Hamburg: Konzept zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit besteht seit 2012
Nur: Die Zahl der Obdachlosen konnte so bislang noch nicht merklich gedrückt werden, obwohl das zugehörige Konzept seit 2012 besteht. Nicht wenige, die sich mit dem Thema auskennen, sagen: Bislang wird Obdachlosigkeit häufig in Hamburg nur verwaltet, anstatt sie wirklich nachhaltig zu bekämpfen. Ganz so harsch ist Prof. Dr. Volker Busch-Geertsema, der zu Wohnungs- und Sozialpolitik forscht, in seinem Urteil nicht, aber auch er sieht Verbesserungsbedarf. „Es gibt in Hamburg gute Ansätze zur Wohnraumerschließung für Wohnungslose, aber offensichtlich reichen sie nicht aus. Auch im Bezug auf wohnbegleitende Hilfen besteht weiterer Handlungsbedarf“, erläutert er.
Hamburg versucht sich an „Housing First”
Nachhaltigkeit könnte nun ein Modellprojekt des bereits in anderen Städten praktizierten „Housing First“ bringen. In Finnland hat man dank des Konzepts Obdachlosigkeit fast gänzlich besiegt. Wie der Name schon sagt, bekommen Menschen beim „Housing First“ bedingungslos eine Wohnung gestellt – alles andere folgt danach. Der Gedanke: Wer erst einmal wieder eine eigene Bleibe hat, findet deutlich leichter zurück ins „normale“ Leben.
Allerdings wird Hamburg erst einmal sehr zurückhaltend agiert. 30 Wohnungen soll es geben, danach will man prüfen, wie sich das Konzept bewährt hat. Die Ausschreibung dazu läuft derzeit, das Projekt soll im Sommer starten. Für Cansu Özdemir, Fraktionsvorsitzende der Linken, ist das zu halbherzig. „Die 30 Plätze des Modellprojekts sind viel zu wenig. Es ist Quatsch, dass Hamburg jetzt eine eigene Evaluation durchführen muss, obwohl Housing First bereits vielfach erprobt wurde“, sagte sie der MOPO. Sie sei skeptisch, ob Hamburg das Ziel 2030 erreicht. Der Senat habe sich in der Vergangenheit zu häufig um Zielzahlen herumgedrückt.
Ziel 2030: Konkrete Handlungsschritte fehlen noch
Tatsächlich ist noch nirgends konkretisiert worden, wie das Ziel erreicht werden soll. Da sich die Jahreszahl 2030 auch im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung findet, richten sich derzeit die Augen nach Berlin. Doch nach MOPO-Informationen wird sich dort vermutlich bis zum Herbst erst einmal nicht allzu viel tun. Das federführende Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen ist neu gegründet worden und befindet sich noch im Aufbau – das dauert.
Hilfssysteme sind überlastet
Eine besondere Herausforderung darüber hinaus ist, dass mittlerweile eine Mehrzahl der Obdachlosen in Hamburg aus dem EU-Ausland stammt. Sie versprechen sich bei ihrer Einreise häufig Arbeit und rutschen nicht selten schon bei Ankunft in Deutschland in die Obdachlosigkeit. Das macht sie schwieriger für Hilfssysteme erreichbar, zumal viele keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. „Das Hilfsystem ist völlig überlastet damit“, weiß Sandra Berkling, stellvertretende Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege Hamburg (AGFW).
Für die AGFW bleibt die Schaffung von Wohnraum, der dann auch Obdachlose erreicht, der Dreh- und Angelpunkt. „Wir würden uns mehr Entschlossenheit seitens des Senats wünschen“, so Berkling.
Corona-Krise verschärft Obdachlosigkeit
Auch Mareike Engels, Expertin der Grünenfraktion beim Thema Obdachlosigkeit, weiß um die Bedeutung von Wohnraum. „„Der gute Wille ist leider nicht immer entscheidend, es geht ganz konkret um den Zugriff auf Wohnungen und grundsätzlich um die Bekämpfung von Armut. Das sind beides komplexe Themen, die leider nicht mit einem einzigen Bürgerschaftsantrag oder einer einzelnen Maßnahme gelöst werden können.“ Erschwerend käme die Pandemie hinzu. „Ich befürchte, dass die Corona-Pandemie uns stark zurückgeworfen hat. Das volle Ausmaß werden wir erst im Laufe des Jahres sehen.“
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So bleibt es wohl derzeit erst einmal noch beim guten Willen und einigen Ansätzen. Berlin und Hamburg werden aber noch mehr liefern müssen, wenn man das Ziel 2030 ernst nimmt.