Das System Amazon: So schlimm ist die Situation in Hamburg
Nur ein paar Klicks – und schon ist der Einkauf erledigt. Für viele Menschen gehört Online-Shopping längst zum Alltag und Netz-Gigant Amazon ist oft die Hauptanlaufstelle. Allerdings: Wer dort einkauft, unterstützt ein System der Ausbeutung. Die MOPO hat das Amazon Logistik-Zentrum auf der Veddel besucht und mit den Lieferanten gesprochen. Ein erschütterndes Bild.
Halb zehn am Mittwochvormittag. Ein weißer Lieferwagen hält um die Ecke des Logistik-Zentrums an der Peutestraße. Heraus springt Ahmed (Name geändert). Der 50-jährige Syrer, der seinen Namen aus Angst vor einer Kündigung nicht in der Zeitung lesen will, fährt seit drei Jahren für Amazon Pakete aus. Den ganzen Tag saust er quer durch Hamburg, rennt Treppen hoch und runter und kommt dabei ordentlich ins Schwitzen. „Ich muss pro Tag 230 Pakete ausliefern. Bezahlt werde ich für acht Stunden. Das ist unmöglich zu schaffen“, berichtet er. Seine Kollegen, die an der Bushaltestelle warten, erzählen das gleiche. Sie alle arbeiten in der Regel zwei Stunden länger, um das Pensum zu schaffen. Der Stundenlohn liegt mit 10,50 Euro knapp über dem Mindestlohn. Die Überstunden würden nicht bezahlt.
Krankheit zählt nicht. Wer zu Hause bleibt, kriegt kein Geld
„Auf dem Papier steht, dass ich 30 Minuten Pause habe. Die kann ich nicht nehmen, sonst schaffe ich es nicht“, sagt Ahmed. Wenn er eine Beule ins Auto fährt, werden ihm die dabei verursachten Kosten vom Gehalt abgezogen. Wenn er krank ist, arbeitet er trotzdem. „Krankheit wird nicht akzeptiert. Wenn wir zu Hause bleiben würden, bekommen wir für den Tag kein Geld.“
Auch Daniel aus Ghana, der im Amazon-Lager arbeitet, sagt: „Wir achten nicht auf unsere Gesundheit. Wir brauchen das Geld.“ Vor Kurzem habe Amazon einfach so die Schicht geändert: Statt um 10 Uhr vormittags müssen der 42-Jährige und seine Kollegen jetzt um 1.20 Uhr nachts anfangen. Gefragt wurden sie nicht. „Gucken Sie sich doch einmal um: 99,9 Prozent der Leute hier sind Ausländer“, sagt Daniel. Wenn mal ein Deutscher dabei sei, höre der nach einem Monat sofort wieder auf. Daniel: „Die Deutschen kennen die Gesetze. Wir kennen sie nicht. Mit uns können sie alles machen.“
Gewerkschaft: Fehlende Sprachkenntnisse werden ausgenutzt, um Fahrer abhängig zu machen
Das Problem ist im Fall von Ahmed und den anderen Fahrern, dass sie gar nicht bei Amazon angestellt sind, sondern bei verschiedenen Subunternehmen oder sogar Subsubunternehmen. „Das ist ein infames System“, sagt Hamburgs DGB-Vorsitzende Katja Karger, die zusammen mit Kollegen von Verdi am Mittwoch vor das Logistikzentrum auf der Veddel gezogen ist, um am bundesweiten Aktionstag gegen die Arbeitsausbeutung bei Amazon teilzunehmen. Dabei verteilten die Gewerkschafter Faltblätter in verschiedenen Sprachen, um die Fahrer über ihre Rechte aufzuklären.
„Amazon hat keine eigenen Fahrer. So kann der Konzern sich hinstellen und sagen: Damit haben wir nichts zu tun“, kritisiert Karger. „Die Subunternehmen beschäftigen gezielt Menschen, die wenig Deutsch sprechen und einen unsicheren Aufenthaltsstatus haben, um sie abhängig zu machen.“ Die Gewerkschaften fordern deshalb von der Politik Gesetze, die die gesamte Lieferkette in die Pflicht nehmen und auch Subunternehmen zu fairen Arbeitsbedingungen verpflichten.
Kritik: Online-Boom beruht auf der Ausbeutung von Menschen
„Es kann nicht sein, dass der boomende Online-Handel auf der Ausbeutung von Menschen beruht. Wir brauchen mehr Kontrollen in der gesamten Branche durch die Behörden, damit Verstöße gegen das Mindestlohngesetz, das Arbeitszeitgesetz oder das Arbeitnehmerentsendegesetz entdeckt und geahndet werden“, so Karger.
Amazon weist die Kritik an seinen Strukturen zurück. Ein Sprecher erklärte, die Lieferpartner in ganz Deutschland würden regelmäßig kontrolliert und entsprechend vergütet, damit sie ihre Mitarbeiter gut bezahlen könnten. „Alle Lieferpartner sind vertraglich verpflichtet, alle geltenden Gesetze einzuhalten, insbesondere in Bezug auf Löhne, Sozialabgaben und Arbeitszeiten“, so Amazon-Sprecher Michael Schneider. Bei Beschwerden könnten sich die Beschäftigten an eine anonyme Hotline wenden.
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Angesichts der verschiedenen Sprachkulturen bleibt aber die Frage, ob die Packer und Fahrer von dieser Hotline wissen. Viele haben kaum eine Wahl, etwas an ihrer Situation zu verändern. Die Ausbildungsbescheinigungen aus ihren Heimatländern werden in Deutschland oft nicht anerkannt. Übrig bleiben nur die prekären Jobs. Ahmed zumindest ist an der Sache dran und lernt in seiner knappen Freizeit Deutsch, so oft es geht. Bisher hatten seine Deutschkenntnisse nicht für das B2-Zertifikat gereicht, das er zur Bewerbung für seinen Traumberuf braucht: Er will Busfahrer werden. Es fehlt nicht mehr viel.